Textatelier
BLOG vom: 20.09.2005

Moulageuse Elsbeth Stoiber: Auf und Ab eines Lebenswerks

Autor: Heinz Scholz

Elsbeth Stoiber, die letzte Moulageuse der Schweiz – sie könnte aber auch die letzte Moulagen-Bildnerin der Welt sein – lud anlässlich ihres in diesem Jahr erschienenen Buches über die Chronik der Zürcher Moulagen-Sammlung zu einer Vernissage ein. Diese fand am 12. September 2005 im Alten Bad Pfäfers, nahe von Bad Ragaz, statt.

Ich hatte Frau Stoiber 1998 in der Moulagen-Sammlung in Zürich kennen gelernt. Ich recherchierte und fotografierte damals für einen Fachbeitrag über Moulagen, der dann später in der Zeitschrift „Podologie“ (1998-05) publiziert wurde. Eine 2. Begegnung hatte ich anlässlich des 1. Internationalen Fusstherapeutischen Symposiums in Friedrichshafen. Sie stellte dort 3 Postertafeln mit Moulagen von Krankheiten am Fuss aus. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich in meinem Vortrag über Nagelveränderungen und Nageldiagnostik Frau Stoiber als wohl weltweit letzte Moulageuse vorstellte. Darauf erhielt Frau Stoiber tosenden Beifall der 300 Zuhörer.

Die 3. Begegnung hatte ich 2004, als ich sie in ihrem Domizil „Rosenstöckli“ auf dem Albispass besuchte. Anlässlich eines Tages der offenen Tür konnte ich den herrlichen Garten mit vielen exotischen Pflanzen bewundern (siehe Ratgeber „Heilpflanzen, Rosengärten und Firmenbesuche“). Die Idee zur Arbeit über Moulagen kam übrigens von der damaligen Chefredakteurin der Zeitschrift „Podologie“. Vorher hatte ich kaum etwas über Moulagen gewusst.

Was sind Moulagen?

Moulagen sind plastische, naturgetreue Nachbildungen von Körperpartien einschliesslich aller dort in Erscheinung getretenen Hautveränderungen farblicher und struktureller Natur. Da die Moulagen über einen Abdruck am Patienten entstehen, ergeben sie nach der Bemalung durch einen Moulagen-Künstler exakte Kopien des Originals. Trotz Verbesserung der Fototechnik und der computerunterstützten Darstellung sind die Moulagen in punkto Plastizität und farblicher Naturtreue unübertroffen. Nirgendwo lassen sich so eindrucksvoll Hautkrankheiten studieren. Auch über seltene Krankheitsbilder und frühere Operationstechniken geben Moulagen Auskunft. Studenten nutzen die Sammlung, um typische Krankheitsbilder zu studieren und genaue Beschreibungen zu üben. Laien sind von dieser Ausstellung tief beeindruckt.

Die Zürcher Sammlung hat Moulagen von Krankheiten in ihrem Besitz, die es heute nicht mehr gibt oder die sehr selten geworden sind. Auch das ist ein Verdienst Elsbeth Stoibers; sie rettete vor etwa 30 Jahren die Sammlung aus eigener Initiative, nachdem man ihr aufgetragen hatte, die Moulagen wegen Platzmangels einzuschmelzen.

Die Vernissage

Etwa 70 Personen waren zur Vernissage persönlich eingeladen worden und versammelten sich im prächtigen Fürstenzimmer des Alten Bads Pfäfers. Für die musikalische Umrahmung sorgten Susanne Hess (Cembalo), Pedro Cortinas und Jakob Nicze (Violine) und Hans Schönen (Bass). Es kam ein Werk von Wolfgang Amadeus Mozart (Konzert in D-Dur für Clavier mit 2 Violinen und Bass KV 107: Allegro-Andante-Tempo di Menuetto) zur Aufführung.

Die Begrüssung übernahm Dr. med. Hans Jörg Keel aus Walenstadt. Er brachte interessante Fakten zur Geschichte des Bades und über Paracelsus (1493–1541), der hier kurze Zeit als Arzt gewirkt hatte. Aufgelockert war sein lebhafter Vortrag mit Zitaten von Paracelsus. Hier 2 Zitate: „Erfahrung ist unser Leben, von der Jugend bis in das Alter, ja bis an den Rand des Todes; nicht in 10 Stunden bleibt einer, ohne zu lernen.“ Ein anderes Zitat lautete: „Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe.“ Für die Anwesenden hatte er noch einen ganz anderen Spruch parat. Er empfahl uns allen: „Geniesst das Leben, denn die Menschen sind länger tot als lebendig!“

Nach allen Ansprachen hatten wir Gelegenheit, das Leben zu geniessen. Schon beim Apéro brachte uns ein Riesling×Sylvaner in Hochform. Dazu gab es Käseküchlein und gefüllte Hörnchen.

Doch wenden wir uns wieder dem Programm zu: Nach der Ansprache von Dr. Keel fand Paul Stiefel, Verwaltungsdirektor USZ von 1981–1997, lobende Worte über Frau Stoiber. Er betonte, dass es ihm eine Freude war, sie ein schönes Wegstück begleiten zu dürfen. Sie pflegte die wohl berühmteste Sammlung dermatologischer und chirurgischer Moulagen (neben Wien und Paris) mit besonderer Sachkenntnis. Auch ihre Epithesen-Patienten betreute sie einfühlsam und kompetent. In ihrer Tätigkeit musste sie sich mit 4 Klinikdirektoren herumschlagen, aber mit ihrer nie erlahmenden Energie schaffte sie es immer wieder, sich für ihre Moulagen einzusetzen und die Sammlung zu erhalten. „Die nun vorliegende Chronik gibt einen faszinierenden Einblick in die Hochs und Tiefs eines Lebenswerkes“, so Paul Stiefel.

Das Lebenswerk

Elsbeth Stoiber gab im Anschluss einen Einblick in ihr Lebenswerk. Sie wurde in Stuttgart geboren. Dort folgte die Ausbildung zur Chemotechnikerin; später studierte sie an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart Malerei und Bildhauerei. Sie arbeitete danach im renommierten Stuttgarter Kunstkabinett Ketterer. In den 50er-Jahren lernte sie Lotte Volger kennen. Sie bestand den Farbtest unter den gestrengen Augen Lotte Volgers, der damals führenden Moulageuse, mit Bravour. Es folgte die Ausbildung zur Moulagen-Bildnerin. Hier einige wichtige Stationen aus ihrem Leben:

1955 folgte die 1. Reise nach Indien. Sie durchquerte allein das Land und legte per Bahn, Bus und Ochsenkarren 25 000 km zurück. In Indien fertigte sie 60 Wachsmodelle an. Diese schenkte sie der Universität. Sie werden noch heute für Lehrzwecke verwendet. 1963 unternahm sie die 2. Reise nach Indien. Im Auftrag des Universitätsspitals Zürich sollte sie eine Leprasammlung der Grundtypen nach der internationalen Lepra-Klassifizierung erstellen. 28 Moulagen waren die Ausbeute des 7 Monate dauernden Aufenthalts in der Fremde. Diese Moulagen sind heute Teil der Zürcher Sammlung.

Zwischen 1960 und 1973 stellte die nun schon Arrivierte Totenmasken von Berühmtheiten her, so von Carl Gustav Jung, Claude Dornier, Gottlieb Duttweiler, Margarete Susmann, Max Gubler, Oskar Wälterlin, Edwin Fischer, Sutan Scharir und Guido Miescher.

1979/80 folgte eine Ausstellung im Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich („Wachsbildnerei in der Medizin“). Dort wurde erstmals eine Tonbildschau zur Herstellung von Moulagen gezeigt. Danach wurde ein Teil der Ausstellung zum Kongress der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft nach Sylt transportiert. Frau Stoiber erhielt den 1. Preis für die beste didaktische Ausstellung. 1987 war Elsbeth Stoiber mit ihren Moulagen auf dem Weltkongress für Dermatologie mit 7000 Teilnehmern in Berlin vertreten. Das Schweizer Fernsehen drehte übrigens einen Moulagen-Film; später erstellte die Deutsche Filmgesellschaft einen Film, der an 10 000 Ärzte in Deutschland durch den Perimed-Verlag versandt wurde.

Frau Stoiber hatte auch Rückschläge zu verkraften. Nach 1973 sollte die Stelle der Moulageuse gestrichen werden. Man war der Meinung, man brauche keine Moulagen mehr. Die Rettung der Stelle erfolgte durch Konzentration auf die Epithetik. Sie fertigte Epithesen für Gesichtsversehrte an. Epithesen sind künstliche, abnehmbare, nicht eingepflanzte Teile von Gesicht und Schädel, die zur Deckung von Defekten dienen. 1987 gelang ihr in Zusammenarbeit mit dem Institut für Biomedizinische Technik, ETH Zürich, eine Weltneuheit in der Epithetik. Es wurde eine Gesichtsepithese mit integrierter Atemluftheizung entwickelt.

1973 sollten alle Moulagen „entsorgt“ werden. Es ist unglaublich zu hören, dass es Menschen gibt, die einer Zerstörung von Kunstwerken zustimmen. Diese kurzsichtige und unsinnige Entscheidung der oberen Instanz der Klinik hatte Folgen. Ingesamt fielen 80 Moulagen dieser „Entsorgung“ zum Opfer. Durch grossen Einsatz von Frau Stoiber wurde die übrige Sammlung gerettet. Wie sie berichtete, transportierte sie die grösseren Moulagen während der Nacht, um nicht aufzufallen. „Mit den Nachtwächtern hatte ich interessante Gespräche“, so Frau Stoiber. Als die aufmerksamen Zuhörer von diesen Ereignissen hörten, konnten sie nur den Kopf schütteln. „Unglaublich, was hier vorgefallen ist. Ich kann das kurzsichtige Verhalten der verantwortlichen Leute nicht verstehen“, meinte eine neben mir sitzende Frau aus Stuttgart. Und ich entgegnete ihr: „Stellen Sie sich einmal vor, ein Museum hätte Zeichnungen von Picasso zu seinen Lebzeiten entsorgt, nur weil kein Platz vorhanden war.“ Zustimmendes Nicken folgte.

Auch mit dem Transport von Moulagen über die Grenzen hatte sie manch ein Erlebnis. Als sie 1988 zu einem Kongress nach Pavia reiste, nahm sie Professor Desai, Bombay, mit. Sie hoffte inständig, dass die Zöllner die 4 grossen Schachteln mit Moulagen und diverse Holztafeln nicht bemerken würden. Zum Glück studierten sie den exotischen Pass des Begleiters so ausgiebig, dass sie kein Auge auf die Pakete richteten.

An der Zollabfertigung in Konstanz wurden die Moulagen von einem Zöllner und einem Auszubildenden kontrolliert. Als der Lehrling eine Schachtel öffnete und die sehr realistisch wirkenden Moulagen erblickte, wurde es ihm schlecht. Der erblasste Jüngling wankte und schwankte. Mühsam hielt er sich auf den Beinen. Die weitere Kontrolle der Kunstwerke wurde jedoch abgebrochen, und Frau Stoiber durfte einreisen.

Und noch eine Geschichte: Als die Handwerker die Vitrinen im neuen Domizil in der Haldenbacher Strasse 14 in Zürich aufstellten, sah ein starker Raucher die Moulage eines Raucherbeins. Nach einer kurzen Erklärung von Frau Stoiber warf der Handwerker sofort seine Zigaretten weg und wurde Nichtraucher.

Die Lehrsammlung ist heute in einem Neubau zum Selbststudium untergebracht. Neuer Kurator ist Dr. Michael L. Geiges.

Und der Nachwuchs?

Bedauerlich finde ich, dass Frau Stoiber keinen Schüler fand. Vor Jahren testete sie 80 Personen. Diese mussten sich einem Farbtest unterziehen (die Aufgabe der Teilnehmer war, eine genaue Kopie einer Moulage anzufertigen). Nur ein einziger bestand die harte Prüfung. Auch dieser hatte bald darauf keine Lust mehr. Sollte die hohe Kunst des Moulagierens in Vergessenheit geraten? Aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben: Frau Stoiber hat aus diesem Grund das „Geheimrezept“ der Moulagenmasse in ihrer Chronik veröffentlicht.

Das Buch

Nach diesen Ausführungen wurden Fakten zur Buchgestaltung durch die Brüder Jürg und Hans-Peter Zollinger bekannt gegeben. Welche Arbeit in der Realisierung eines solchen Bandes steckt, wurde jedermann bewusst, als er Näheres dazu erfuhr. Besonders schwierig und aufwändig war die Farbwiedergabe der Hauttöne der Moulagen. Insgesamt wurden 109 Fotos zur Wiedergabe herangezogen. Die Raumaufteilung erfolgte nach dem Goldenen Schnitt. Das Buch wiegt übrigens 750 g, hat etwa 157 000 Buchstaben, 21 282 Wörter und 95 Seiten. Nach 248 Arbeitsstunden wurde das Werk zum Druck freigegeben. „Es war für uns ein spannendes Abenteuer und eine Herausforderung“, so Jörg Zollinger.

Eine Leserin kommentierte das Buch folgendermassen: „Sie haben Ihrer Intention von ehedem ein sehr überzeugendes Buch folgen lassen – mit vielen interessanten Farbdarstellungen und einem sehr flüssig gefassten Text. Auch der Einband gefällt mir gut. Das alles hat Stil ... Ich habe das Buch in einem Zug gelesen (sehr nobel auch das Layout). Es ist ein wunderschönes, präzise gegliedertes Buch, das auch die Neugier des Aussenstehenden auf sich zieht, und zu dessen Erscheinen (sicher kein leichtes Unterfangen in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Zeit) ich Ihnen herzlich gratulieren darf.“

Nach einem vorzüglichen Mittagessen führte Dr. med. Hans Jörg Keel die Besucher durch die berühmte Taminaschlucht.

Bemerkenswert war, dass die Chronik von der Autorin in der „Alten Küche“ des Bads signiert und kostenlos abgegeben wurde.

Fazit: Es war eine rundum sehr gelungene Veranstaltung. Alle Teilnehmer zeigten ihre Bewunderung über die letzte Moulagen-Künstlerin, die über ihr reiches Arbeitsleben, das von internationalen Erfolgen gekrönt war, in fesselnder Weise berichtete. Begeistert waren die Gäste auch über die Veranstalter, das hervorragende Essen und über das geschichtsträchtige Alte Bad Pfäfers und die wild-romantische Taminaschlucht. Es war ein Tag zum Geniessen, Staunen, und man konnte vieles kennen lernen.

Hinweise

Bezug der Chronik: „Chronik der Moulagen-Sammlung und der angegliederten Epithesenabteilung am Universitätsspital Zürich von 1956 bis 2000“, Erlebnisbericht von Elsbeth Stoiber. Das Buch ist zum Preis von 40 CHF (30 Euro) zu beziehen bei Elsbeth Stoiber, Kniebrechstrasse 6, CH-8135 Langnau am Albis.

 

Tel. und Fax: +41 1 713 39 58. E-Mail: stoiber.moul.rose@gmx.ch

 

Eine Kurzfassung der Chronik ist nachzulesen unter www.agdv.org (Informationen anklicken, dann Bibliographie, deutsch, Buch von Elsbeth Stoiber).

 

Moulagen-Sammlungen des Universitätsspitals, Haldenbachstrasse 14, CH-8091 Zürich, Öffnungszeiten: Mittwoch 14 bis 18 Uhr, Samstag 13 bis 17 Uhr. Das Buch liegt dort zur Einsicht auf.

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