Textatelier
BLOG vom: 06.12.2005

Der unbekannte Samichlaus an der M-Kasse im Kreis 5

Autorin: Rita Lorenzetti
 
Letztes Jahr, am 6. Dezember 2004, traf ich vor der Migros-Kasse mit einer mir nicht bekannten Frau zusammen, die sich nach unserem „Samichlaus“ (Sankt Nikolaus) erkundigte. Sie sehe hier viele Zeichen von ihm und interessiere sich für die dahinter liegende Geschichte. Sie komme aus Berlin, kenne eigentlich nur die Figur des Knechts Rupprecht. Weiter erzählte sie, dass sie heute Geburtstag feiere. Sie heisse Nicole. Das ist die französische und weibliche Form von Nikolaus. Als ich daraufhin wies, staunte sie. Sie kannte diese Zusammenhänge noch nicht.
 
Ich konnte ihr dann in groben Zügen erzählen, dass unserem Samichlaus die Figur des Heiligen Nikolaus von Myra zugrunde liege und dass diese die Mildtätigkeit verkörpere. Der Samichlaus, wie wir ihn heute feiern, komme aus dem tiefen Wald, vor allem zu den Kindern und prüfe, ob sie artig seien. Er beschenke sie mit Nüssen, Äpfeln, Mandarinen, Lebkuchen und „Gritibänzen“ (aus Hefeteig gebackene Mannli) und anderen Leckereien. Die Kinder würden für ihn Verse aufsagen und Lieder singen.
 
Wenn ich die Berlinerin heute wieder träfe, würde ich noch auf die diesjährigen Sonder-Briefmarken aus der Schweiz hinweisen und ihr jene zu 85 Rappen zeigen, auf der die Insignien des christlichen Ur-Nikolaus zu sehen sind. Die Mitra (Bischofshut) und der Bischofsstab. Die zur gleichen Serie gehörende Briefmarke zu 100 Rappen stellt übrigens einen Gritibänz dar. Die grafische Darstellung dieser beiden Werte fängt den Zauber ein, den ich als Kind in mich aufgenommen habe und der mir immer noch Massstab ist. Sankt Nikolaus ist für mich eine Figur aus der Anderswelt. Eine mythische Figur, die sich der jeweiligen Gegenwart und der Wellenlänge der einzelnen Menschen und Familien anpasst, und doch unverkennbar sich selbst bleibt.
 
Aus einem Internetbeitrag des Historikers Martin Leuenberger erfahre ich jetzt, dass auch die Indianer aus dem Südwesten Amerikas eine solche Figur gekannt haben. Eine maskierte und kostümierte Person, die jährlich wiederkehrte, die Kinder belohnte oder bestrafte. Wie bei uns. Der oben genannte christliche Ur-Samichlaus ist also nicht der älteste.
 
Zurück zur Berlinerin: Denkt sie heuer an unser damaliges, zufälliges Zusammentreffen zurück? Hat sie die Legende, die ich ihr beim anschliessenden Tee bei mir zu Hause übergab, gelesen und verinnerlicht? Und die Kassiererin, ist sie vielleicht auch noch auf die Antwort gestossen, die sie selbst nicht geben konnte? Nicole richtete die Frage zuerst an sie. Beantworten konnte diese Frau sie nicht, obwohl sie aus unserem Kulturkreis stammte und nicht mehr jung war. Sie blieb still, einfach still und sass auf ihrem Stuhl wie ein Kind, das am Examen nicht zu antworten weiss. Was die Kunden doch immer alles wissen wollen! So kam es, dass ich mich einmischte.
 
Nicoles Begleiterin hatte schon nach der peinlichen Stille beim Einpacken ihrer Einkäufe mitfühlend gesagt: „Gälled Sie, mer machts eifach, wie mers immer gmacht hät!“ („Nicht wahr, man macht es einfach, wie es schon immer gemacht worden ist.“)
 
Eine solche Haltung ist dem Samichlaus vielleicht lieber als wir meinen. Sein Auftreten und seine Anliegen können sowieso nur mit dem Herzen verstanden werden.
 
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