Textatelier
BLOG vom: 14.01.2006

Früh- und Spätzünder – bis zur tödlichen Einsamkeit

Autor: Emil Baschnonga
 
Mit gewissen Dingen kam ich früher als viele andere zurecht. In anderen Belangen hinkte ich arg hintenan. Vielfach hing es davon ab, ob ich Spass oder Verdruss beim Unterfangen hatte.
 
An der Kletterstange oder am Seil in der Turnhalle kam ich flugs hoch. Bäume erkletterte ich leicht und gerne.
 
Beim Kopfrechnen hatte ich viel Mühe. Dabei ist es geblieben. Der Primarlehrer stellte die Klasse der Wand entlang auf. Wer zuerst das richtige Ergebnis von sich gab, durfte einen Platz vorrücken. Meine voreiligen Antworten waren meistens Schnelleinschätzungen und sicherten mir keinen Ehrenplatz. Also schwieg ich, so dass nach und nach meine Kameraden an mir vorbei vorrückten. Ich scherte mich keinen Deut um den Tadel meines Lehrers. Mit einer 3 im Zeugnis schlüpfte ich noch einigermassen glimpflich.
 
Eine 6 im Zeichnen als bedeutend weniger wichtigem Schulfach wog meinen Mangel im Rechnen nicht auf. Deutsch war meine Rettung, genauer: Aufsätze.
 
Mit diesen Ich-bezogenen Bemerkungen erweist es sich, dass ich ein Durchschnittsfall bin, weder ein Früh- noch Spätzünder.
 
Ein Student, nennen wir ihn Michael, sprang in Kensington (London) am Samstagnachmittag, 19. März 2005, von seinem luxuriös ausgestatteten Studio in einem Hochhaus in den Tod, ausgerechnet am Geburtstag seiner geliebten Mutter. Er galt schon als 10-Jähriger als mathematisches Wunderkind und studierte Chemie im Imperial College. Seine geschiedenen Eltern hatten nicht die geringste Ahnung von seinem Seelenzustand und suchen jetzt fanatisch nach dem Grund seines Selbstmords. Er neigte zu Depressionen, erfuhren sie, und sein Arzt hatte ihm ein Antidepressivum verschrieben. Er hatte zuvor mehrere Selbstmordversuche unternommen.
 
In England wählen jährlich über 600 junge Leute im Alter zwischen 15 und 24 Jahren den Freitod, worunter viele Studenten.
 
Im Boarding House in South Kensington kannte ich anfangs der 60er-Jahre einen hochbegabten Studenten, der ebenfalls im Imperial College studierte. Nick stammte aus Indien. Er schien immer munter und fidel, ein wahrer Spassvogel, der mich oft zum Lachen brachte. Unbemerkt aber zog er sich mehr und mehr zurück, als er dem Abschluss seines Studiums entgegen büffelte. Er war kaum mehr ansprechbar. Manchmal erschien er am Morgen und am Abend im Speisesaal. Der kleinste Vorfall entlockte dem sonst so sanftmütigen Nick einen Wutanfall. Ein Verzug beim Auftischen des Tellergerichts genügte. Ich kann nur hoffen, dass er sich wieder auffangen konnte.
 
Auch besonders erfolgreiche Leute im besten Lebensalter sind für den Selbstmord anfällig. Erst vor wenigen Tagen sprang Katherine Ward, eine 52-jährige Spitzenanwältin, vom 4. Stock eines Hotels, wiederum in Kensington, in den Tod.
 
Sie hatte ihr eigenes Appartement gleich um die Ecke. Von ihren Kollegen hochgeschätzt und bewundert, zeigte sie sich als eine Frohnatur und galt als sehr umgänglich und hilfreich. Sie arbeitete mit einem Eifer sondergleichen. Nach Aussagen ihrer Kollegen war sie eine „workaholic“ (Arbeitsbessessene) und geschieden. Sie hatte ihren Selbstmord mit grossem Ordnungssinn vorbereitet, bezahlte die Hotelrechnung, als sie ihr Zimmer buchte. Dort verweilte sie einige Stunden, bevor sie ihr trauriges Vorhaben verwirklichte.
 
Michael, der zuvor erwähnte Student, entstammte einer äusserst wohlhabenden Familie. Obwohl die Eltern geschieden sind, umhegten ihn Mutter wie auch Vater und blieben in engem Kontakt mit ihm. Desgleichen seine jüngere Schwester. Die Familie ist vor Jahren von Hongkong nach England übergewechselt.
 
Was wissen wir, was in diesen Menschen vorgeht? Sie schweigen sich aus und geben vor, dass alles in bester Ordnung sei. Viel wird dem Stress zugeschrieben. Er mag gewiss zu tiefen Depressionen beitragen. Mir scheint, dass die innere Vereinsamung, als Folge etwa einer Scheidung oder Liebeskummer, den Gedanken an Selbstmord nährt und „Idées noires“ in uns aufsteigen lässt. Vorübergehend kennen wir wohl alle kürzere oder längere Perioden der Einsamkeit und ziehen uns ins Schneckenhaus zurück. Zum Glück tauchen wir wieder als geheilt aus solchen Phasen auf. Wir haben, wie man sagt, „den Rank wieder gefunden“.
 
Sehr oft sind akademisch hochgradig begabte Frühzünder zugleich Spätzünder im emotionellen Bereich. Sie sind mangelhaft gegen Schicksalsschläge von aussen gefeit. Plötzlich scheinen ihnen berufliche Errungenschaften ausgehöhlt wie ein ausgeblasenes Ei. Der Selbstwert sackt zusammen. Der Ausblick auf ein verpfuschtes Leben tut sich auf.
 
Es ist schon so, dass in unserer heutigen westlichen Gesellschaft Herz und Gefühle im rastlosen Konsumeifer dahinserbeln. Mehr und mehr Menschen entwurzeln dabei und werden an den Rand verdrängt und vereinsamen. Das Schicksal der Vereinsamung trifft auch mehr und mehr die Überreichen und Begüterten. Das ist alles bekannt. Es ist verdienstvoll, wie kräftig sich das Blogatelier für eine heilere Welt einsetzt.
 
Eine Lebenshilfe ist der Weg zur Selbstentdeckung. Viele Pfade münden in diesen Weg. Ich bin nachträglich meinem Zeichenlehrer sehr dankbar, dass er mich zu einem dieser Pfade gewiesen hat.
 
Weitere Blogs zum Thema Lebensstil
06. 01. 2005: „Glückliche Jugendzeit mit archäologischem Einschlag”
29. 12. 2005: „Zeitmangel, wenn ein Jahr das Zeitliche segnet”
11. 12. 2005: „Leitspruch des modernen Menschen: ‚Ich habe keine Zeit’“
27. 11. 2005: „Schwarz und weiss: Doppeltes Buben-Glück in Liestal“
22. 11. 2005: „Fremdwort Nachbar: Getto der Superreichen in England“
13. 11. 2005: „Das Gottesverhältnis und die Sache mit der Korruption“
05. 11. 2005: „Ein weiter Horizont ist an vielen Orten zu finden“
30. 10. 2005: „Wie Mann heute zur Frau kommt – und umgekehrt“
28. 10. 2005: „Winterhilfe: Eine warme Mahlzeit, ein Pullover, ein Bett ...“
06. 10. 2005: „Le Passe-muraille: „Luftschlösser sind gratis zu haben“
13. 09. 2005: „Kult des Loslassens: Die Wegwerfmentalität wegwerfen“
09. 09. 2005: „Schwein bei der Wohnungssuche: Hier stört uns keiner“
04. 09. 2005: „Bitte verirren Sie sich nicht: Unterwegs zur Lebensfreude“
08. 08. 2005: „Meetings heute: Nackt, provozierend und einschüchternd“
21. 07. 2005: „Übel aus dem Osten, aus dem Westen nichts Neues“
21. 05. 2005: „Die Bedeutung von Schabernack, Musse und Spiel“
16. 05. 2005: „Schildbürger: Ist dumm gestellt = gescheiter gefahren?“
15. 05. 2005: „Augenblick bitte: Das Gemüt spricht aus den Augen“
25. 04. 2005: „Aufgewerteter Büroschlaf: Wer schläft, schafft gut ...“
05. 04. 2005: „Das war also Primos ‚Tag X’ – ohne Lichterlöschen“
05. 04. 2005: „Kunst des Abwimmelns: Unangenehme Journalisten-Fragen“
06. 01. 2005: „Betroffenheit: Vom Umgang mit dem Umgang“
30. 12. 2004: „Lähmt Zucker das Denkvermögen?“
27. 12. 2004: „Glücksstreben, Glückwünsche und Lebenssinn“
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst
Altes Giftbuch entdeckt – Wurde Mozart vergiftet?