Textatelier
BLOG vom: 10.04.2006

Der Warenmarkt Zürich-Oerlikon, eine Entdeckung für mich

Autorin: Rita Lorenzetti
 
Das wusste ich nicht, dass in Zürich-Oerlikon nach einer Winterpause immer am letzten Donnerstag im Monat ein Warenmarkt stattfindet. Celeste schickte mich dorthin. Sie brauchte Roman-Nachschub.
 
Es ist ein nasskalter Morgen, als ich hier eintreffe. Ich fühle mich wie in Ponte Tresa, weil ich letztes Jahr zur selben Zeit und mit gleichen Wetterbedingungen durch die Angebote schlenderte.
 
Diesmal habe ich einen Auftrag und ein festes Ziel: Ich muss an einem bestimmten Stand nach den billigen Roman-Heften mit Geschichten von Fürstenhäusern fragen. Affären, Intrigen, Glanz und Gloria sind Eckpfeiler von Celestes Interesse.
 
Der Andrang ist riesig. Hier werden einerseits mehrfach gelesene Roman-Hefte angeboten, anderseits solche von der Kundschaft wieder zurückgenommen. Eine Art marktfahrende Bibliothek. Offensichtlich eine erfolgreiche Sache. Frau an Frau steht da, sucht, sammelt, hebt in der einen Hand die Beute hoch und gibt mit der andern die eben gelesenen Titel wieder zurück. Die Preise scheinen moderat. So etwas kann man sich leisten.
 
Hier ist alles neu für mich. Ich stehe da, schaue zu und weiss nicht, wie ich meinen Auftrag ausführen soll. Offensichtlich befinde ich mich an einer Futterkrippe. Ausser mir wissen alle, wo sie ihre Hefte herauszupfen können. Da eine Geschichte von der ersten Beige, dort 2 weitere aus einer anderen Rubrik usw. Die Marktfrau ist sehr konzentriert, schaut kaum auf, zählt, rechnet, verrechnet und lässt die Hefte in einen Plastiksack gleiten. Dann nimmt sie die Zahlung entgegen und ordnet das zurückgenommene Gut sofort wieder in die entsprechenden Rubriken ihrer Auslage ein. Und dort werden sie von den Wartenden auch gleich wieder weggenommen. Die Sache hat Stil und lebt von Ordnung. Neben der Frau amtet auch der Partner mit gleich nüchterner Genauigkeit. Für Sprüche gibt es weder Bedarf noch Zeit.
 
Da ich Rat brauche und somit noch keine vollen Hände zur Marktfahrerin ausstrecken kann, werde ich auch nicht bedient. Das wird von einer Kundin neben mir bemerkt. Sie ermuntert mich, einfach zu rufen, was ich brauche. Ja, es ist wahr. Ich stehe da wie ein scheues Kind, das Rot-Kreuz-Abzeichen verkaufen sollte und sich nicht getraut, die Menschen anzusprechen. Ausser mir wissen hier alle, wie der Laden läuft. Das Warten aber ist spannend. Eine Art Theater. Andere zahlen dafür ein Eintrittsbillett. Ich lerne etwas bisher Unbekanntes kennen.
 
Ich frage mich, ob diese betagten, wirklich alten Frauen, die hier einkaufen, der Lebenslust nachtrauern und noch Geschichten erleben wollen, die ihnen das Leben vorenthalten hat. Oder ob sie einfach aufblühen, wenn sie sich mit einer Romanheldin identifizieren können. Der Hunger nach Geschichten, nach Liebe und Happy-End ist spürbar. Alle sind auf der Jagd nach gutem Stoff. Spannung muss sein, so ist das Leben noch schön. Im Vergleich zu den TV-Glotzern sind diese Herz-Schmerz-Leserinnen von hochgradiger geistiger Potenz.
 
Eine Kundin erschrickt, findet ihr Portemonnaie nicht gleich. Die Marktfahrerin tadelt: „Ich sage es euch immer wieder: Wenn ihr das Portemonnaie in der Aussentasche versorgt, dann wird es euch auch gestohlen.“ Die Betroffene findet aber gerade in diesem Augenblick den gesuchten Geldbeutel. Die Falten in der Innentasche hielten ihn versteckt. Sie ist so froh darüber, dass sie sich nicht einmal über die abkanzelnden Worte ärgert. Sie bedankt sich und geht weg. Sie hat gefunden, was sie sich gewünscht hat.
 
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