Textatelier
BLOG vom: 23.06.2006

„Doris Day“ in Aarau: Fähnchen, Polizeimusik und Kavallerie

Autor: Walter Hess
 
Die Aarauer, ich kenne sie. Es sind aufgeschlossene, zugängliche Menschen, die nicht leicht in Euphorie geraten. Alle diese Eigenschaften schätze ich an ihnen sehr. Und manchmal möchte ich aktuell überprüfen, ob dem noch so sei. Am Donnerstag, 22. Juni 2006, bot sich Gelegenheit dazu: Königin Doris I. kam um 14.03 Uhr mit Gefolge in einem langen Extrazug aus Bern an.
 
Die Königin heisst mit bürgerlichem Namen Doris Leuthard. Sie ist am 14. Juni 2006 von der Bundesversammlung in Bern im 1. Wahlgang mit 133 von 234 Stimmen als Nachfolgerin von Bundesrat Joseph Deiss gewählt worden. Wäre die Stimmenzahl kongruent zum vorangegangenen Medienrummel gewesen, hätte sie 234 Stimmen, das Maximum, gemacht – und wahrscheinlich noch einige ausserparlamentarische Zugaben ... Aber die Wirklichkeit ist keine Medienrealität – diese werden allzu oft verwechselt. Kalte Duschen (siehe unten) gehören dazu.
 
Und nun kam sie, Doris Leuthard, in den Hauptort ihres Heimatkantons, nach Aarau, zurück – hier hatte sie vom März 1997 bis Ende Dezember 2000 im Grossen Rat (Kantonsparlament, CVP-Vertreterin) mitgewirkt. Die Aargauer Zeitung nützte die Gelegenheit für Eigenwerbung und verteilte Schweizer Fähnchen aus Papier an einem verlängerten Trinkhalm als Fahnenstange. Die Firmenlogos (az online, Radio Argovia, Tele M1 und Aargauer Zeitung) am Fähnchenrand sind gelungen, die Schweizer Fahne weniger. Der Fähnchengestalter machte die Balken des weissen Schweizer Kreuzes im roten Feld gleich lang wie breit. Dabei wurden die Masse des quadratischen Nationalwappens (die meisten Nationalflaggen sind rechteckig) schon 1889 anders festgelegt: Die Balken sind um ein Sechstel länger als breit, und der Abstand zum Fahnenrand ist auf allen Seiten gleich. Dieser Rand ist beim AZ-Fähnchen rechts zu schmal geraten.
 
Doris Leuthard liebt Fähnchenschwenker; sie hätte schon gern am Wahltag 1500 Aargauer Kinder in Bern Fähchen schwenkend gesehen. Doch dem besonnenen Aargauer Regierungsrat schien eine solche Inszenierung denn doch etwas penetrant zu sein, eher für andere schöne Länder wie Nordkorea geeignet. Er bot eine fetzige Band auf. Aber jetzt gab es in Aarau doch noch eine gewisse lichte Fähnchenhecke; von einem Wald mag ich nicht sprechen. Und beim Schwenken fallen falsche Abmessungen nicht auf. Der Publikumsaufmarsch hielt sich, wie die Wahlstimmen auch, in Grenzen; das Absolute Mehr wurde diesmal eindeutig unterschritten. Denn es war ein normaler Arbeitstag für die DIE-MIT-DON-Gesellschaft.
 
Der bescheidene Triumphzug wurde vom Polizeiauto mit dem Kennzeichen „AG 1“ angeführt, und dahinter vervollständigten die Polizeimotorräder „AG 1“ und „AG 11“ das Fahrzeug-Dreieck; es bestand also aus lauter 1; Number one sagt man dem jetzt.
 
Die Kantonspolizei Aargau war im Übrigen kein dominanter Faktor; das übertriebene internationale Sicherheitsgetue ist ihr fremd. Hier regiert zusammen mit dem Kommandanten Léon Borer die Vernunft. Da wird keine Beschützungsshow abgezogen. Aber auffallend war dafür das Spiel der Kantonspolizei, ein stattliches Korps, das musikalisch den Takt angab. Musizierende Polizisten sind alleweil sympathischer als büssende.
 
Im Frontbereich des Umzugs vom Bahnhof via Kasinostrasse zum Kultur- und Kongresszentrum ritten gereifte Kavalleristen in alten Militäruniformen. Das war ein Anklang an den 1830 losgetretenen Freiämtersturm unter dem so genannten „General Fischer“ zwischen Merenschwand AG (Freiamt, Bezirk Muri, wo Doris aufgewachsen ist) und Aarau – die Katholiken waren zu jener Zeit mit der reformierten Kantonsregierung unzufrieden. Innerhalb der aktuellen Leuthard-Parade liessen sich die Pferde anfänglich nicht richtig in die Formation einfügen, und eines riss sogar rückwärts aus. Die nervösen Tiere hätten wohl lieber im gestreckten Galopp das Weite gesucht. Die Rossäpfel wurden von Soldaten gleich eingesammelt, damit die Schuh-Liebhaberin Doris (diesbezüglich auf den Spuren von Imelda Marcos, der philippinischen Ex-Präsidentengattin) nicht jetzt schon ausrutschte. So hat in Aarau alles seine Ordnung.
 
Und dann, flankiert von Weibeln und begleitet von Politikern aus Bern und dem Aargau erschien sie, Doris Leuthard, mit gebräuntem Teint und freundlich lächelnd, nach allen Seiten winkend. Sie kennt alle, und alle kennen sie. Familiäre Stimmung. Sie hatte sich weder für ein männliches (Hosen) noch für ein weibliches Kleid (Rock) entschieden, sondern für eine ausgewogene, diplomatische Kombination der Mitte, ein Hosenkleid, ein langer Rock, der unten in 2 Hosenbeinen endet, wie es in Harems üblich ist. An die CVP-Wahlwerbung 1999 (auf einem grosszügig verteilten Duschgel stand „Duschen mit Doris“) erinnerte sich bei diesem züchtigen Auftritt wohl niemand.
 
Der Hosenrock war einer der berühmten Kompromisse, mit denen man sich durch die Wirrnisse des politischen Dschungels schlängelt. Und das wars dann. Die wenigen hundert Zuschauer verzogen sich in alle Richtungen und waren froh, nicht in den ehemaligen Saalbau eintauchen und sich Gruss- und Glückwunschadressen anhören zu müssen. Es war ein angenehm milder, trockener Nachmittag.
 
Ich nahm den nächsten Aar-Bus nach Biberstein. Eine Mitfahrerin aus Rombach, die zufällig in der Stadt gewesen war, aber den Triumphzug nicht gesehen hatte, sagte auf der Fahrt zu mir: „Solch ein Rummel und ein Zeremoniell wie um diese Doris Leuthard hat es noch nie gegeben; das löscht einem ab.“ Und sie fügte mit Bezug auf die neue Bundesrätin bei: „Si söll jetz zerscht emol öppis zeige“ (Sie soll jetzt zuerst einmal eine Leistung vollbringen). Ich sehe das auch so.
 
Die Aarauer haben ihren Test bestanden. Den Rest lehrt die Zukunft.
 
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