Textatelier
BLOG vom: 04.07.2006

„Viagra“ fürs Gehirn und ein dankbarer Albrecht Dürer

Autor: Heinz Scholz

„Pflanzenfamilien zwischen Haustür und Gartentor“ lautete das Thema der am Sonntag, den 25. Juni 2006, in Bad Säckingen D von der Fachapothekerin für Offizinpharmazie und Ernährungsberaterin Rosemarie Boos-Baumgartner durchgeführten Kräuterwanderung. Die Apothekerin hat ein TCM-Diplom (TCM = Traditionelle Chinesische Medizin), führt ins Qi-Gong ein – im Philarium der Stadtapotheke in Bad Säckingen beginnt soeben ein 5 Abende umfassender Kurs –und ist seit 1985 Mitglied des Münsterchors in Bad Säckingen. Zur Exkursion hatten der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Schwarzwaldverein Bad Säckingen eingeladen. Franz Stortz vom Regionalverband Hochrhein des BUND begrüsste die 22 Teilnehmer und bemerkte, dass Frau Boos-Baumgartner die Führungen seit 1995 ehrenamtlich für die Vereine macht.

Die Inhaberin der „Stadt-Apotheke“ (www.stadtapotheke.com) wies zu Beginn der Tour darauf hin, dass wir heute etwa 600 000 Pflanzen, von denen nicht einmal 10 % erforscht sind, kennen. Es schlummern in diesem Reichtum wahrscheinlich noch viele Arzneistoffe.
 
Die Pflanzen werden in so genannte Pflanzenfamilien eingeteilt. Zu verdanken haben wir das System der Pflanzen Carl von Linné (1707–1778). Er führte konsequent die binäre lateinische Bezeichnung (Nomenklatur) ein. Hierzu ein Beispiel: Der arzneilich verwendete Echte Baldrian hat die lateinische Bezeichnung Valerianae officinalis. „Valerianae“ ist der Gattungsname und „officinalis“ die Art (officinalis = wird im Offizin verkauft). Der Baldrian gehört zu den Baldriangewächsen.
 
Wir erfuhren auch, dass es kleine und grosse Pflanzenfamilien gibt. Als Beispiele für grosse Familien nannte sie die Lippenblütler und Rosengewächse. Die Lippenblütler sind fast auf der ganzen Erde verbreitet und umfassen 3200 Arten in 200 Gattungen. Von den Rosengewächsen existieren 5000 Arten in 90 Gattungen. Die Basis der Klassifikation waren die Geschlechtsorgane (Staub- und Fruchtblätter) der Pflanzen. Mit Hilfe dieser Klassifikation können alle Pflanzen bestimmt werden.
 
„Viagra“ fürs Gehirn
Die Teilnehmer waren sehr erstaunt, wie viele Heilpflanzen im Stadtgebiet und am Wegesrand in der Nähe von Schrebergärten wachsen. Im Garten vor dem Restaurant „Margarethen Schlössle“ sahen wir einen Ginkgobaum, der auch Tempelbaum genannt wird. Im Stadtgebiet von Bad Säckingen gibt es weitere solcher Bäume im Schlossgarten und in der Rheinallee.
 
Ginkg-biloba-Bäume sind bekannt für ihre Widerstandsfähigkeit. So vertragen sie nicht nur Autoabgase, Smog und Umweltgifte. Viele Pflanzen haben auch die Strahlung, die nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima frei wurde, überlebt. Auch Bakterien, Pilze, Viren und Insekten können ihnen nichts anhaben. Man vermutet, dass die Widerstandsfähigkeit der Pflanze auf bestimmte Abwehrstoffe in den Blättern zurückgeht.
 
Ginkgo biloba ist übrigens der einzige Überlebende der Familie der Ginkgoaceen. Er wird deshalb „lebendes Fossil“ genannt. Vor 250 Millionen Jahren, als es auf der Erde weder Vögel noch Säugetiere gab, wuchs dieser Baum bereits. Der Baum hat einige botanische Besonderheiten aufzuweisen. Zu diesen gehört die Zweihäusigkeit, d. h. es gibt männliche und weibliche Bäume. Die mirabellartigen weiblichen Früchte riechen bei der Reifung penetrant nach Buttersäure. Aus diesem Grunde werden bei uns in Parkanlagen nur männliche Bäume angepflanzt. Ein weiteres Merkmal sind die fächerförmigen Blätter, die in der Mitte einen tiefen Einschnitt aufweisen.
 
Die Wirkstoffe von Ginkgo sind befähigt, die Durchblutung des Gehirns und der Extremitäten zu steigern. Besonders profitieren Menschen von einer Medikation, die unter Gedächtnislücken, Konzentrationsschwäche, Vergesslichkeit, Ohrensausen, Schwindel, also unter den häufigsten Symptomen einer altersbedingten Hirnleistungsstörung, leiden. „Ginkgo ist Viagra fürs Gehirn“, bemerkte die Apothekerin.
 
Ein Herr Kussler, der vor 2 Jahren eine Kräuterführung mitmachte, war so begeistert, dass er ein Gedicht und einige Reime der Apothekerin zukommen liess. Über Ginkgo schrieb er: 
Und Ginkgo-Blätter lasst euch sagen,
Kann man auch an den Ohren tragen.“
Zur Erklärung: Frau Boos-Baumgartner trug ein Ohrgehänge mit stilisierten vergoldeten Ginkgo-Blättern, ein wirklich schöner und dezenter Schmuck.
 
Hier weitere Kräuter, die wir im Stadtgebiet und in Gärten entdeckten:
 
Die Echte Nelkenwurz (Geum urbanum) wird im Volksmund auch „Benediktenkraut“ genannt. Sie wurde besonders gern von den Benediktinern in ihren Klostergärten angebaut. Die Nelkenwurz ist auch ein Rosengewächs. Kennzeichen der Rosengewächse sind die 5 Blütenblätter (nur die Blutwurz macht eine Ausnahme: hier sind nur 4 Blütenblätter vorhanden). Die Wurzel der Nelkenwurz riecht nach Nelken. Aus diesem Grund diente die Wurzel als Gewürz-Nelkenersatz. Die Nelkenwurz enthält Eugenol, ätherisches Öl, Gerbstoffe und Bitterstoffe und wirkt leberstärkend, blutreinigend und magenstärkend. Die Nelkenwurz ist auch im Diabetiker-Tee zu finden.
 
Mit Eisenkraut zu Verstand kommen
In der Austrasse entdeckten wir ein einzeln blühendes Eisenkraut (Verbena officinalis). Einst glaubte man, das Eisenkraut verleihe Zauberkräfte. Die Pflanze sollte vor Verletzung mit eisernen Waffen schützen. Aus diesem Grunde trugen Krieger der vergangenen Zeit immer Eisenkraut bei sich. Man sprach dem Eisenkraut noch ganz andere Fähigkeiten zu. So sollten Kinder Verstand bekommen und leichter lernen. Erwachsenen brachte das Kraut Reichtum. „In den Acker gesteckt, verschafft es eine reiche Ernte, gibt man es einer Wöchnerin ins Bett, so werde ihr noch dem Neugeborenen Schaden geschehen“, dies berichtet Anton von Perger in seinen „Deutschen Pflanzensagen“ von 1864.
 
Das Eisenkraut ist überwiegend in Kombinationspräparaten enthalten, die bei akuten und chronischen Entzündungen der Nasennebenhöhlen verordnet werden. Die Inhaltsstoffe wirken stark schleimlösend und entzündungshemmend.
 
Am Eingangstor und der Mauer des ehemaligen Gefängnisses – heute Jugendhaus – rankt sich der Efeu (Hedera helix) mit seinen Haftwurzeln in die Höhe. An manchen Stellen hat die Kletterpflanze die Mauer teilweise überwuchert. Die Beeren des Efeus sind übrigens giftig!
 
Die Efeupräparate in Apotheken wirken bei chronisch-entzündlichen Bronchialleiden und akuten Entzündungen der Atemwege mit der Begleiterscheinung Husten. Die Inhaltsstoffe von Efeu lösen den Schleim, den Husten und lindern den Hustenreiz.
 
Wütend durchstach er das Kraut
Am Rande eines verwilderten Heckenbereichs entdeckten wir das herrlich blühende Johanniskraut (Hypericum perforatum). Unsere Expertin äusserte, dass das Kraut auch eine Botschaft hat: „Was auch passiert, das Leben geht weiter!“ Sie meinte wohl damit, wie ungemein die Pflanze auf unsere Psyche, das Nervensystem und bei Depressionen wirkt.
 
Auch Susanne Fischer-Rizzi schreibt in ihrer „Medizin der Erde“ Löbliches über das Kraut: „Es ist unsere schönste Sonnenpflanze, ganz durchdrungen von der warmen lichten Kraft der Sonne. Es scheint mit allen guten Geistern im Bunde, denn die Menschen haben in dieser Pflanze ein heilsames, erhellendes Wesen erkannt, das alles Böse und Dunkle vertreiben kann.“
 
Hält man Blütenblätter oder Blätter gegen das Licht, entdeckt man dunkle und helle Punkte. Die dunklen enthalten den roten lichtwirksamen Farbstoff Hypericin, während die hellen Punkte Öldrüsen sind. Frau Boos-Baumgartner erzählte uns noch, wie sich das Volk früher das Zustandekommen der Punkte erklärt hatte: Vom Volk wurde das Johanniskraut besonders verehrt. Dem Teufel war diese Verehrung und die Heilkraft ein Dorn im Auge. Er wollte die Pflanze zerstören. Er durchstach die Blätter mit einer feinen Nadel und glaubte, die Pflanze würde verdorren. Aber sie hatte einen solch starken Überlebenswillen, dass sie weiterwuchs.
 
Getränk für heisse Konferenzen
In der Nähe des Rheinufers entdeckten wir noch schöne Exemplare von Baldrian (Valerianae officinalis). Die alten Griechen und Römer schätzten den Baldrian als schmerzstillendes, krampflösendes und den Harnfluss steigerndes Mittel. Erst im 18. Jahrhundert verordnete der englische Arzt John Hill den Baldrian als Beruhigungsmittel. In Pestzeiten war Baldrian ein Abwehrmittel.
 
Es gibt ein Getränk – „Valerianea tisane“ – in Belgien für „heisse“ Konferenzen. Hier das Rezept: Baldrianblüten, die 1 Tag zusammen mit einigen Zitronenscheiben in eine Karaffe Wasser gelegt wurden, trinkt man in Belgien gerne vor Konferenzen. Es soll die Konzentration steigern.
 
Mittel gegen Katzenplage
Wenn den Katern der Geruch der Wurzel in die Nase steigt, werden sie liebestoll. Dazu eine Geschichte:
 
Kommt ein Katzenfeind in eine südbadische Apotheke und verlangt wegen der vielen Katzen in seinem Garten nach Baldrian. Der Apotheker kennt den Kunden und weiss, dass er keine Katzen mag. „Sie wissen doch sicherlich, Baldrian vertreibt keine Katzen, er zieht sie an“, bemerkte der Apotheker. „Das weiss ich“, entgegnete der Kunde und fährt fort: „Die Baldriantropfen werde ich in den Garten meines Nachbarn sprühen. Ich hoffe, von nun an bleibt mein Garten katzenfrei.“
 
Die Pflanzenfreunde lernten dann noch weitere interessante Heilpflanzen kennen, zum Beispiel das Rosengewächs Gänsefingerkraut (Potentilla anserina), den Köpfchenblütler Schafgarbe (Achillea millefolium), das Nachtkerzengewächs Nachtkerze (Oenothera biennis), das Schachtelhalmgewächs Schachtelhalm (Equisetum arvense). Den Schachtelhalm bezeichnet man auch als Scheuer- oder Zinnkraut, da man früher Zinngefässe damit reinigte.
Der Name Schafgarbe ( = Bauchwehkraut) leitet sich vom altdeutschen Wort „Garbe“ ab und bedeutet „die Heilende“. Hirten gaben es den Schafen, wenn der Hundebandwurm bei ihnen zur Drehkrankheit führte.
 
Bemerkenswert für mich war die Pflanze Herzgespann (Leonorus cardiaca) in einem Schrebergarten. Diese Pflanze ist auch unter dem Namen Löwenschwanz bekannt. Sie riecht unangenehm, sieht aber ganz passabel aus. Der Lippenblütler hat eine beruhigende Wirkung bei nervösen Herzbeschwerden mit Angstgefühlen.
 
In demselben Garten sahen wir noch einige Exemplare des giftigen Roten Fingerhuts (Digitalis purpurea). Die Pflanze enthält stark herzwirksame Digitalisglykoside. Eine Selbstbehandlung ist strengstens untersagt! Der Arzt verordnet Digitaliswirkstoffe in geringen Dosierungen bei Herzmuskelschwäche. Hierzu passt das Zitat von Paracelsus, der einmal sagte: „Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift, nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding kein Gift ist.“
 
Ein dankbarer Albrecht Dürer
Das Schöllkraut (Chelidonium majus L.) entdeckten wir an einer Mauer am Rheinuferweg. Es wuchs aus einer Mauerritze heraus. Wahrscheinlich brachten Ameisen die Samen dieses Krauts in Vertiefungen des Mauerwerks.
 
Das Schöllkraut wurde in der Volksheilkunde gegen Leberleiden, Gallenbeschwerden, Milzleiden, Harnbeschwerden verwendet. Auch diente der gelbe Milchsaft zur Warzen- und Hühneraugenentfernung. Ein Tee oder die Tinktur wird heute bei Magen-, Darm- und Gallebeschwerden verordnet.
 
Über das Schöllkraut gibt es eine nette Geschichte. Albrecht Dürer (1471−1528) litt unter Malaria, Milzbeschwerden und Leberschwellung. Er sandte seinem Arzt ein Selbstbildnis, worauf die schmerzenden Stellen gekennzeichnet waren. Der Arzt verordnete Schöllkraut. Bald darauf wurden die Schmerzen des Geplagten gelindert. Aus Dankbarkeit malte Dürer ein Bild vom Schöllkraut.
 
Hans-Peter Karrer vom Schwarzwaldverein Bad Säckingen bedankte sich nach der schweisstreibenden 2-stündigen Wanderung (es herrschte eine Temperatur um 30 °C) bei Frau Boos-Baumgartner für die interessante Einführung in die Welt der Kräuter und Heilpflanzen. Die Apothekerin verstand es, die Teilnehmer für diese Pflanzen zu begeistern. Wir erfuhren viel Wissenswertes über Inhaltsstoffe, Heilwirkungen, aber auch Fakten zum Volksglauben und zu Volksbräuchen. Auch Pflanzenkenner konnten bei dieser Exkursion viel Neues kennen lernen.
 
Die Teilnehmer wurden anschliessend noch zu einem kleinen Umtrunk im Philarium (ausgebautes Dachgeschoss) in ihrer Apotheke, die seit 1894 besteht, eingeladen (das Baujahr des Hauses ist 1686). Nach der Stillung des Durstes hatte die Apothekerin noch ein „Bonbon“ parat. Sie trug das Gedicht „Mein Dr. Wald“ vor. Die Verfasserin ist Gisela Schmidtlein, die das Buch „Die Kräuterkiste" geschrieben hat.
Mein Dr. Wald
Wenn ich an Kopfschmerz leide und Neurosen,
mich unverstanden fühle oder alt,
und mich die schönen Musen nicht umkosen,
dann konsultiere ich den Dr. Wald
 
Er ist mein Augenarzt, mein Psychiater,
mein Orthopäde und mein Internist.
Er heilt mich ganz bestimmt von jedem Kater,
ob der aus Kummer oder Cognac ist.
 
Er hält nicht viel von Pülverchen und Pille,
doch umso mehr von Luft und Sonnenschein,
und kaum umhüllt mich seine Stille,
raunt er mir zu „ nun atme tief Du ein“.
 
Ist seine Praxis oft auch überlaufen,
in seiner Obhut läuft man sich gesund,
und „Kreislaufkranke“ die noch heute schnaufen,
sind morgen ohne klinischen Befund.
 
Er bringt uns immer wieder auf die Beine,
das Seelische ins Gleichgewicht,
verhindert Fettansatz und Gallensteine,
doch Hausbesuche macht er nicht.
Infos im Internet
http://de.wikipedia.org/wiki/ginkgo (ausführliche Infos über Ginkgo)
www.bad-saeckingen.de (Infos über Bad Säckingen)
www.bund.net/hochrhein (Infos über Veranstaltungen u. a.)
 
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