Textatelier
BLOG vom: 24.08.2006

Medien: In den Informationsfetzen kommen die Wörter um

Autor: Walter Hess
„Dann fallen die Worte. Und mit ihnen wir.“
Botho Strauss
 
In den Morgennachrichten von Radio DRS wurde am 22. August 2006 die folgende SDA-Meldung verlesen: „Die israelische Armee hat im Gazastreifen 3 radikale Palästinenser getötet. Ein Militärsprecher sagte, die Palästinenser hatten sich mit grossen Taschen dem Grenzzaun genähert und sich ‚verdächtig benommen’“.
 
Das wars dann schon. 3 Palästinenser erschossen. Wer waren sie? Hatten sie Familien? Lag da ein Missverständnis vor? Wir erfahren nicht einmal ihre Namen, nicht ihr Alter, kennen ihre Motive nicht. Wir wissen nur, dass die Guten schon wieder einen Sieg über die Bösen errungen haben. Und war der Grenzzaun vielleicht eine Mauer, wie sie die seinerzeitige DDR errichten liess? Jene sozialistische Mauer war böse, wurde weltweit als Schandmal kritisiert. Die israelische Mauer ist gut. Eine Schutzmauer.
 
Über die erwähnte Tötung weiss ich nicht mehr als der normale Medienkonsument, der mit Kurzfutter abgespeist wird. Das ist so üblich. Die Raffung von komplexem Geschehen auf wenige Wörter führt dazu, dass die Wörter abgeschliffen und verbraucht, ja hingerichtet werden. Sie verlieren ihre Kraft. Zum Beispiel diese Wörter: töten, erschiessen, bombardieren, hinrichten, foltern, Folterflüge, Guantánamo Bay, Terrorismus, Kofferbomber, Wertegemeinschaft, Schurkenstaaten, Schutztruppe, Anschläge verüben, Gewalt, Massaker, Katastrophe, Opfer, Verletzte, Todesopfer, mutmassliche Täter, Rassismus, vermutete Waffenlager, verdächtiges Benehmen, zurückschlagen, Sicherheit, Geheimdienst, Videoüberwachung, Untersuchung eingeleitet, Dementi, bei der Flucht ertrunken, verdurstet, verhungert. Multikulturalismus, Universalismus, Globalisierung. Die Sportsprache hat ihr eigenes, adaptiertes militärisches Vokabular. Es sind hier wie dort montierte Versatzstücke. Die Begriffe Vernunft, Gerechtigkeit und Weitsicht kommen nicht mehr vor; der Duden führt sie noch als Relikte.
 
Auf solch einen Begriffskanon und noch ein paar Namen ist heutzutage die Darstellung des komplexen Weltgeschehens reduziert. Alltagssprache, leer, ohne Sinn, ohne Gehalt, ohne Aussage. Selbst an Fotos von angebrannten, blutüberströmten Menschen oder verkohlten Leichen hat man sich gewöhnt. In Trümmern wird nach Überlebenden gesucht. So ist der Krieg eben. Alles geht, alles ist erlaubt, was die Guten tun. Und es ist immer gut, entzieht sich der Justiz. Meinungsfreie Meinungsmacher, die darüber berichten, sind beliebt, ecken nicht an. Die Horizonte der Moral sind offen, Ethik ist ein antiquierter Begriff, der nicht zum Neoliberalismus passt.
 
Vielleicht sollte sich ein investigativer (enthüllender) Journalist, falls es ihn noch gibt bzw. falls er den medialen Spardruck überlebt hat, einmal aufmachen und ergründen, wer die eingangs erwähnten getöteten Palästinenser waren, wie sie dachten, was sie wollten und was ihr Tod für ihre Familie bedeutet. Und er sollte sich bitte an den Tatbestand erinnern, dass nichts ohne Vorgeschichte ist. Wahrscheinlich wäre die Vorgeschichte spannender zu lesen als die Phase der Erschiessung. Dann wüsste man mehr. Dann könnte man das Weltgeschehen besser beurteilen. Dann behielten die Wörter ihre Kraft. Dann wäre die Sprachlosigkeit überwunden. Ich möchte informiert und nicht mit einer Hohlwörterei abgespeist und dadurch vom tatsächlichen Geschehen abgelenkt werden.
 
Solch eine vorbildliche Journalistin ist Iren Meier (1955), die vormalige Balkan- und heutige Nahost-Korrespondentin von Radio DRS, ein Glücksfall. Sie ist immer mitten in Krisengebieten, kennt und beschreibt die Nöte der Menschen, mit denen sie zusammenlebt. Ich begegnete der Murianerin oft, als sie noch im Aargau journalistisch tätig war (seit 1982 ist sie beim Schweizer Radio) und möglichst viel lernen wollte. Noch heute bin ich stolz darauf, dass ich ihr einmal die Funktion einer Kläranlage erklären durfte. Sie wollte einfach alles wissen. Sie lässt sich nicht einbinden, ist in jeder Beziehung mutig und hat ein eigenständiges Urteil. Solche Journalisten müssten die Regel sein. Die Ehrendoktorwürde, die ihr von der Christkatholischen und Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität im Dezember 2005 verliehen wurde, ist mehr als verdient. 
 
„Klagt nicht, dass ein Staat, der gross, auch redlich wird, wünscht Torheit bloss“, schrieb der niederländische Arzt und Sozialethiker Bernard de Mandeville (1617−1733) in seiner „Bienenfabel“. Sein Wunsch nach Torheit ist hinsichtlich der militärisch mächtigsten Staaten mehr als in Erfüllung gegangen. Und an der fehlenden Redlichkeit hat sich bis heute nichts geändert. Doch immerhin sollten uns die Medien klaren Wein darüber einschenken, um wenigstens einige wenige ethische Löcher zu stopfen. Mit ihrer subtilen Antikriegsberichterstattung tut das Iren Meier. Ein Vorbild. Die Tugend der Redlichkeit dürfte nicht auf ein unredliches, verharmlosendes Satzgerippe, zu Wort- und Informationsfetzen, zusammenschmelzen. Sie hätte eine Pflege mit Hingabe nicht nur in Einzelfällen, sondern durchs Band verdient.
 
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