Textatelier
BLOG vom: 23.05.2007

Reisen mit Kindern: Wache und verblasste Erinnerungen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
„Alles für die Katz!“ sagt Primo jedesmal, wenn wir die Töchter auf weit zurückliegende gemeinsame Ferien oder Reisen ansprechen und sie sich nicht mehr daran erinnern können.
 
Er reagiert gern humoristisch und fängt so ein vermeintliches Fiasko auf. Klar, er weiss selbst, dass nicht alle Erfahrungen im Bewusstsein bleiben. Manche siedeln sich auf der andern Hirnhälfte an und bereichern das Unbewusste, aus dem sich dann unsere schöpferischen Kräfte entwickeln.
 
Was uns immer wichtig war: dass Ferien auf spielerische Weise etwas fürs Leben vermitteln. Dass die Kinder von früh auf lernen, sich auch in veränderten Verhältnissen wohl zu fühlen. Dann die praktischen Aspekte, z. B. das Packen der Dinge, auf die man nicht verzichten kann. Den Rucksack selber tragen. Eine Reiseroute überblicken, den Fahrplan studieren lernen. Und sich dann in einer Ferienwohnung einrichten.
 
An solchen Orten fängt eine Familie bei Null an. Es ist vieles offen. Räume können erobert werden. Man tastet sich gemeinsam vor. Eine vorhandene Leere muss mit eigenem Leben und mit Fantasie gefüllt werden. Damals konnte nicht aufs Fernsehen ausgewichen werden, wenn das Regenwetter Ausflüge unmöglich machte. Für alle Unterhaltung waren die Feriengäste selber zuständig. Diese Situation hat viel Kreativität freigesetzt. Und wir hatten Zeit, auf die Kinder einzugehen. Das eigentliche Ziel der Ferien ist ja, Zeit füreinander zu haben.
 
Meine Mutter, die Ferien erst kennen lernte, als ich schon verheiratet war, staunte immer wieder, wie junge Familien verreisten und fragte sich, ob das kleinen Kindern und vor allem Säuglingen gut tue. Das frage ich mich grundsätzlich auch, andererseits sind Reiseerfahrungen für Schulkinder sicher sehr wichtig. Reisen muss auch gelernt sein.
 
Felicitas, unsere Erstgeborene, wollte von klein auf so viel wie möglich reisen. Sobald sie begriff, dass es eine Landesgrenze gibt, wollte sie diese immer wieder überqueren. Wie oft war sie enttäuscht, wenn der Zöllner nicht verlangte, dass sie den Koffer ihrer Puppe öffne und den Inhalt zeige. Sie wollte mit allen Fasern erleben, dass sie in ein anderes Land reise.
 
Und Letizia fürchtete sich vor dem Zoll. Menschen in Uniform ängstigen sie enorm.
 
Einmal, an einem Sonntag, als wir die Kinder fragten, was wir unternehmen könnten, wollte Felicitas unbedingt nach Deutschland. Gut. Das war möglich. Reise ab Zürich mit der Bahn nach Stein-Säckingen. Zu Fuss über die prächtige, 220 Meter lange Holzbrücke über den Rhein. Rundgang in der Stadt Säckingen.
 
Kurz vor der Zollstation merkten wir aber, dass wir wegen unserer überstürzten Abreise keine Identitätskarten mitgenommen hatten. Jetzt wurde es spannend. Wir meldeten uns beim Schweizer Zoll auf der linken Rheinseite. Hier wurde uns geraten, beim deutschen Zoll, also am anderen Ufer, zu fragen, ob Deutschland uns für einen Spaziergang in Säckingen eintreten lasse.
 
Auf dem Weg dorthin trafen wir in der Mitte auf den Brückenheiligen St. Nepomuk. Wir grüssten und baten ihn, er möge dort drüben ein gutes Wort für uns einlegen.
 
Auf der anderen Rheinseite angekommen, schickte uns der deutsche Zöllner sofort in die Schweiz zurück und liess ausrichten, wenn man uns dort einen Ausflugsschein ausstelle, sei die Sache in Ordnung. Obwohl wir kein einziges Papier bei uns hatten, das uns als Familie Lorenzetti hätte ausweisen können, schrieb uns der Schweizer Zöllner 2 Ausflugsscheine. Einen für den Vater und die beiden Kinder, einen zweiten für die Mutter.
 
Nun freuten wir uns riesig, marschierten wieder los. Die überglücklichen Kinder schwenkten die Ausweispapiere und zwinkerten St. Nepomuk zu. Drüben in Deutschland war dann das Zollbüro leer und niemand kontrollierte uns bei der Einreise. Freude und Enttäuschung in einem. Wir hätten unsere Papiere so gerne gezeigt.
 
Dieses Erlebnis war stark und ist darum in den Erinnerungen gut verankert. Wir können es jederzeit abrufen. Die Ausflugsscheine besitzen wir übrigens noch. Ausgestellt wurden sie am 23. Mai 1974. Einen für den Vater mit den beiden Kindern, einen für die Mutter zu je SFR. 3.–. Sie tragen die Nummern 134 916 und 134 917.
 
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