Textatelier
BLOG vom: 30.05.2007

Neoliberaler Leichengeruch im Schweizer Pressewäldchen

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Etwas zwischen einem Erdbeben und einem Bombeneinschlag hat den gelichteten Schweizer Zeitungswald, in dem ich den Grossteil meines Lebens zugebracht habe, am 24. Mai 2007 angeblich erschüttert: Die Berner Zeitungen „Bund“ und die „Berner Zeitung“, unter dem Schirm der Berner Espace Media Groupe, seien für 205 Mio. CHF ans Zürcher Medienunternehmen Tamedia verkauft worden, vermeldeten die Agenturen. Die Konzentration geht also weiter, wie es zur neoliberalen Globalisierung gehört. Denn auch Zeitungen leben nur noch für den Kommerz, empfinden kaum noch eine Mission im Interesse des öffentlichen Wohlergehens. Und so wird denn der Prozess weitergehen, wenn immer höhere Renditen in Aussicht stehen oder einfach als erzwungene Folge im Rahmen der unaufhaltbaren Zerfallserscheinungen.
 
Die Tamedia steht vorläufig als Gewinnerin da; sie ist Verlegerin von 14 Zeitungen und Zeitschriften. Die bekanntesten Titel sind der Tages-Anzeiger, die SonntagsZeitung, das Gratis-Pendlerblatt „20 Minuten“, das Frauenmagazin Annabelle, die Schweizer Familie und das Nachrichtenmagazin Facts. Im weitern besitzt Tamedia den Privatfernsehsender Tele Züri und die beiden Privatradios Radio 24 und Radio Basilisk. Die Espace Media Groupe ihrerseits kontrollierte bis anhin 8 Zeitungen, darunter eben die Berner Zeitung, den Bund und die Wochenzeitung Automobil Revue. Das Berner Unternehmen ist zudem Besitzerin des Privatfernsehsenders TeleBärn und der beiden Privatradios Capital FM und Canal3.
 
Mich persönlich hat das Erdbeben nicht erfasst; bei mir ist rein gar nichts ins Wanken geraten. Wenn schon alle Zeitungen unter verschiedenen Zeitungsnamen dasselbe schreiben (Agentur und PR-Material haben die absolute Dominanz), ist es doch vollkommen wurst, von welchem Verlag ein Blatt herausgegeben wird, und selbst wenn die Plantage um einige Bäume verkleinert werden sollte, ändert das ja nichts. Was nützen verschiedene Packungen, wenn, abgesehen von etwas Lokalkolorit, überall dasselbe drinnen ist?
 
Das grosse Elend sind nicht die Konzentration oder die Abnahme der Titel, sondern der Umstand, dass die ins globalisierte Ertragsdenken eingebetteten Zeitungen alle aus den gleichen Quellen schöpfen, Eigenleistungen bis hinaus in die Korrespondentenposten im Ausland abgebaut oder gar verunmöglicht haben und sozusagen unbesehen übernehmen, was so am Billig- oder Gratismaterial hereinkommt und Quote (Auflage) verspricht. Das ist selbst beim Schweizer Fernsehen DRS so. Und der Rest sind Eigeninszenierungen.
 
Die Medienleute wurden nicht müde, die Globalisierung herbeizuschreiben, die ihnen jetzt das Bein stellt. Dazu kommt der schon krankhaft zu nennende mediale Nachahmungsdrang, den ich als Nachäffung bezeichnen würde, wenn dadurch nicht die ehrenwerten Affen, unsere intelligenteren Vorfahren also, beleidigt würden. Als Themenführer amtet in der Schweiz die Boulevardzeitung „Blick“ aus dem Hause Ringier. Diese führte in der gesamten Schweizer Medienlandschaft die Boulevardisierung (in Bezug auf Aufmachung und Inhalt) ein, weil das bei ihm Auflage brachte, und das Muster wurde fast durchgehend kopiert; nur die NZZ zeigte sich noch etwas bockbeinig. Klatsch und Tratsch haben sich inzwischen selbst bei eher konservativen Regionalzeitungen bis in die Zeitungsköpfe emporgearbeitet. Und selbstverständlich wird auch der Sport behandelt, als ob er nicht allein eine kommerzielle Bedeutung hätte. Immerhin liefert er nach Hooligan-Art etwas Action wie die Rechtsextremisten im Inland, womit ich auf die Vorgänge der Rütlifeier 2006 anspiele. Das Anheizen im Hinblick auf den 1. August 2007 läuft bereits.
 
Das Fernsehen hat die besseren Karten bei der Sport und Schlägerei-Berichterstattung; denn live zu sein, gelingt den aufwendig zu produzierenden und zu verteilenden Zeitungen mit dem besten Willen nicht. Sie dürfen noch nachziehen, ihre standardisierten Gregorianischen Gesänge bzw. Kommentare absingen, falls das Budget überhaupt noch die Anstellung eines Sängers erlaubt, bis sie durchs beweglichere TV und Internet überholt sein werden.
 
Im schweizerischen Zeitungswald weht ein Leichengeruch, der das Wohltuende einer frischen fruchtbaren Walderde überdeckt. Die Zeitungen wurden und werden kaputt gespart, kaputt rationalisiert. Für die Verlage scheint es nichts Schlimmeres als Personalkosten zu geben. Diese werden mit allen Mitteln bekämpft, und an der Stelle individueller Geistesäusserungen stehen heute grosse Titelschriften nach Agenturvorgaben und Digitalbilder, die auf ganz einfache Art zu beschaffen sind und das gestraffte Budget weniger belasten.
 
Die hyperaktive Leservertreibung wird weitergehen, ein schleichender Prozess, der viel schlimmer als ein gelegentliches Erdbeben der Stärke 8,5 ist. Die alltägliche, systematische Demontage wirkt sich mit der Zeit verheerender aus als ein gelegentlicher Paukenschlag, der nur eine Momentäusserung im Rahmen eines schleichenden Prozesses ist.
 
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