Textatelier
BLOG vom: 30.06.2007

Besuch im Muotathal: Geschichten aus der Franzosenzeit

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Manchmal stelle ich mir vor, wie spannend es wäre, wenn ich meine Vorfahren in einer Leuchtspur auf der Weltkarte sehen könnte. Woher kamen sie? Wie verlief ihr Weg in der Völkerwanderung, wo rasteten und verweilten sie?
 
Ein kleiner leuchtender Punkt auf ihrer Reise in die Gegenwart hat sich kürzlich bestätigt. Ich besuchte das Muotathal und dort die alte Klosterkirche, die schon 1958 renoviert worden ist. Dieser romanische Kirchenraum, einzigartig im Alten Land Schwyz, hat mich sofort eingenommen. Seine Schlichtheit bezauberte mich. In dieser Kirche wurde ich aufmerksam auf die Grabstätte von
 
Walburga Mohr
1745 bis 1828, von Luzern
Vorsteherin des Klosters von 1795 bis 1827
In der Kriegszeit beim Durchgang
fremder Heere – im Kampfe zwischen
Franzosen und Russen 1798–1799
Beschützerin der Schwestern
und der Talleute
Helferin der Verwundeten
und Hungrigen.
 
Ich kaufte mir Schriften, um dieser Frau näher zu kommen und fand darin einen Vorfahr erwähnt, der zur so genannten Franzosenzeit 1798/1799 zu Tode kam. Es heisst da: „Wegen der Gewalttätigkeiten und dem Mutwillen der Franzosen hatten die Leute viel zu leiden. Anton Bolfing von Rickenbach wurde totgeschlagen. Johann Georg Fässler in Yberg stürzten sie über die Guggernfluh zu Tode, weil er seine Tochter aus ihren Händen retten wollte.“ Da war mir, als ob mich ein leichter Blitz getroffen hätte. Exakt diesen Wortlaut besitze ich auf einem Papier, das mir ein Onkel vererbt hat. Es informiert über das Geschlecht Fässler, dem meine Mutter entstammt, beschreibt das Wappen und zählt herausragende Männer auf. Ihm kann ich auch entnehmen, dass 3 weitere Familienmitglieder durch die Franzosen umkamen. Und hier also innerhalb der Lebensbeschreibung von Walburga Mohr leuchteten die Namen dieser Vorfahren unverhofft auf. Sie hat also auch mich beschenkt.
 
Auch heute noch wird im Kanton Schwyz und vor allem im Muotathal mit Achtung von dieser Frau gesprochen. Sie muss eine starke und aussergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein. General Alexander Wassiljewitsch Suworow soll beim Abschied gesagt haben: „Ihr verdient ein Land zu regieren, nicht nur ein armes Klösterlein.“
 
Nun war mein Interesse geweckt. Ich konnte mir noch das vergriffene Buch „Maultiere machen Geschichte – Suworows Krieg in den Schweizer Alpen im Jahre 1799“ aus einem Antiquariat beschaffen. Obwohl mich Kriege nie faszinierten, packte mich dieses Buch, das die grossen Zusammenhänge zu den Ereignissen im Muotathal herstellt. Sobald Menschen fühlbar werden, kann ich mich ins Geschehen einlassen. Eine blosse nüchterne Darstellung erreicht mich nicht. Ich hatte vordem die Schrift „700 Jahre Frauenkloster Muotathal 1288–1988“ gelesen und bin dort den Hauptakteuren ebenfalls als Menschen und nicht nur als Kriegsherren begegnet. Somit waren es dann Bekannte, als ich mich ins Camenzind-Buch vertiefte.
 
Alois Camenzind schreibt darin: „Die Französische Revolution brauste seit mehreren Jahren wie ein Wirbelwind über Europa, traf Fürstenhäuser ebenso unvorbereitet wie Städte und machte auch vor der Eidgenossenschaft nicht halt. Menschenrechte wurden erklärt, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit proklamiert und Freiheitsrechte aller Art verkündet, deren Tragweite vorerst kaum erfasst wurde.“
 
Ich verstand die Französische Revolution immer als eine Befreiung, aber erst nach diesen Lektüren bin ich beschämt über den Preis, den andere für uns bezahlt haben.
 
In Paris befindet sich auf dem Vorplatz zum Palais de Chaillot eine Gedenktafel mit dem Artikel 1 der Menschenrechte: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits“. (Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.) Der damalige Präsident, François Mitterrand, liess diesen Text am 30. Mai 1985 in den Fussboden einmauern.
 
Da liegen diese bedeutungsvollen Worte und erinnern daran, dass die Freiheit einmal nicht allen gehörte. Manche Besucher werden wohl achtlos und unwissend darüber hinweggehen, andere spüren vielleicht den ihm zugrunde liegenden Geist, denn der Ort ist heiter und offen. Hier sind immer junge und fröhliche Menschen anzutreffen.
 
Auf dem Weg der Nordseite dem Palais de Chaillot entlang, wusste ich schon, was jetzt kommen werde: Die spektakuläre Aussicht auf den gegenüberliegenden Eiffelturm. Und diese wollte ich noch etwas steigern. Ich schlug vor, die Augen zu schliessen und sie erst wieder auf der Hauptterrasse zu öffnen. Letizia war gerade 20 geworden, und ihretwegen befanden wir uns hier. Ihr wollten wir ein zum Geburtstag passendes Erlebnis verschaffen. Es gelang. Die Sicht zum Eiffelturm ist hier immer wieder überwältigend und gibt die Gewissheit: Ich bin in Paris.
 
Und der Zufall gab an jenem Tag noch eins drauf. Wir standen nämlich, ohne es zu wissen, exakt vor der erwähnten Tafel mit dem Hinweis auf das grundlegende Menschenrecht. Wer hatte wohl mehr Freude daran? Die eben volljährig gewordene Tochter oder die Mutter, deren höchstes Gut die eigene Freiheit ist? Freiheit wohlverstanden immer im Zusammenklang mit der dazugehörigen eigenen Verantwortung.
 
Verwendete Literatur
Gwerder, Alois: „700 Jahre Frauenkloster Muotathal 1288–1988.“
Heinzer, Max: „Sr. Walburga Mohr, Heldin der Franzosenzeit.“
Diese beiden Schriften sind im Frauenkloster St. Josef, CH-6436 Muotathal, erhältlich.
 
Camenzind, Alois: „Maultiere machen Geschichte (Suworos Krieg in den Schweizer Alpen im Jahre 1799)“, ISBN 3-909196-04-7, mit etwas Glück noch im Antiquariat erhältlich.
 
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