Textatelier
BLOG vom: 12.08.2007

Grenze Kreuzlingen–Konstanz: Kunstwerk und Maschendraht

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Eine Begegnung mit einem Menschen, der eine „Schule des Staunens“ erfunden hat, verspricht erstaunliche neue Erkenntnisse. Der Künstler Peter Zahrt, Volapükweg 6, D-78465 Konstanz, erfüllte diese Erwartung. Ihm liegt es daran, Aufmerksamkeit und Neugier zu wecken, den Geist anzuregen, die Sinne zu beleben und die Fantasie zu beflügeln, auf dass sich die Leute auf die Suche nach ihrer eigenen Kreativität begeben. Er wohnt an einem Ort, an dem es aber auch möglich ist, (seine) Grenzen zu erkennen. Und Grenzen sind ja gerade das Interessante.
 
Peter Zahrt gab in Aarau einen Zeichenkurs für Lehrer, lehrte sie das Beobachten und das Umsetzen des Gesehenen zu einem Bild. So zum Beispiel machte er darauf aufmerksam, dass es unendlich viele Arten des Lachens gibt – man muss bloss genau hinsehen. Als ich noch die Zeitschrift „Natürlich“ leitete, nutzte ich sein visualisierendes Talent, indem ich ihn bat, schwierige Themen wie „Esoterik“ bildlich unmzusetzen. Ich staunte immer wieder, wie er es fertig brachte, Abstraktes so zu darzustellen, dass es nicht allein zum Kunstwerk wird, sondern auch Erklärungen bietet. Seine Werke führen hin zum Punkt und sprechen an.
 
Landesgrenzen und ihre Ausprägungen
Während seines Kurses im Aargau besuchte uns Peter Zahrt in unserem Heim in Biberstein. Und selbstverständlich sprachen wir über die alte und zeitgemässe Formen der Kunst, über vielerorts verloren gegangene Fähigkeiten des gegenständlichen Zeichnens und Abbildens– die Fotokameras haben sind ein wohlfeiler und bequemer Ersatz, ohne aber das leisten zu können, was ein begabter Illustrator vermag, der zum Beispiel auch unsichtbare Stimmungen und Atmosphären sichtbar der Wahrnehmung zugänglich machen kann. Bei diesem Philosophieren kamen wir auf die „Kunstgrenze“ zwischen Konstanz D und Kreuzlingen TG zu sprechen, von der ich bis dahin noch nichts gehört hatte: die künstlerisch gestaltete Landesgrenze Deutschland–Schweiz. Riesenplastiken zeigen, wo sich die beiden Länder begegnen. Nach meinem Besuch der Landesgrenze im südlichsten Bereich der Schweiz bei Pedrinate/Chiasso TI (siehe Blog vom 8.7.2007: Tessin-Reise (9): Extrem im Süden ist der Schmugglerzaun) sprach mich diese Information besonders an, und ich gelobte, diesem Stück Landesgrenze im Zahrt’schen Sinne einmal meine Aufmerksamkeit zu widmen. Da ich nach der Untersee-Exkursion (Blog vom 8.8.2007: Unterseebootfahrt nach Stein a. Rhein mit Kapitän Schnitzer) gerade in Konstanz strandete, war die Gelegenheit für dieses Grenzgängertum günstig.
 
Die Kunstgrenze: Grenze mit Kunstwerken
Die künstlerisch gestaltete Grenze ist auf einfache Weise zu finden: Man fährt ins Hafengebiet von Kreuzlingen TG, wo der Bahnhof Kreuzlingen-Hafen, die Anlegestelle für Kursschiffe und viele Parkplätze sind, selbst Liegestellen (See lounge) sind dort eingerichtet. Alsdann folge man dem Seeweg in nördlicher bzw. nordöstlicher Richtung dem Bodenseenaturmuseum (Aquarium „See life center“) entgegen, also gegen Konstanz D. Nach wenigen Schritten, auf der Höhe der Bodenseearena und der Tennishalle, ist die Landesgrenze erreicht, die auf einer Strecke von 280 m eben zu einer künstlerisch gestalteten Grenze gestaltet worden ist. Die zu symbolischen Formen (Tarot-Symbole) verschweissten 22 Eisenstangen mit kolibriroter Lackierung, die je 8 Meter hoch sind, wirken in der Bodensee-Uferlandschaft trotz ihrer enormen Dimensionen filigran, belebend, bereichernd.
 
Was bei flüchtiger Betrachtung wie ein Stangengewirr anmutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Allegorie der Eigenschaften und der Erfahrungswege menschlicher Existenz. Der Künstler Johannes Dörflinger hat damit ein Meisterwerk vollbracht, das mich wirklich positiv beeindruckt und zum Nachdenken angeregt hat. Die Johannes-Dörflinger-Stiftung hat die Kosten von rund 1 Mio. CHF für das Kunstwerk übernommen; die Kosten für Aufstellung auf dem schwierigen Untergrund (auf kontaminiertem Abfallmaterial) und den Unterhalt tragen die Städte Konstanz und Kreuzlingen gemeinsam – und wohl auch jene für die Videoüberwachung.
 
Die behördliche Bedingung war, dass die Grenze sichtbar gemacht werden müsse. Die kreisrunden, pfeilförmigen, spitzwinkligen, dreieckigen, quadratischen, kreuz und quer angeordneten roten Stangen auf mehrsprachig beschrifteten Sockeln sind etwas versetzt, nehmen es also mit dem Grenzverlauf nicht ganz genau, was erfreulicherweise vonseiten der Behörden toleriert worden ist. Die Symbole stellen die Trümpfe des Tarot dar, die „Grosse Arkana“. Der rote Kreis steht beispielsweise für die Liebe, das blaue Quadrat für den Intellekt, der schwarze Stern für das Schicksal und die gelbe Pyramide für Seele und Geist. In den italienischen Festzügen wurde dieselbe Symbolik jeweils in 3 Gruppen auf geteilt. Zum „Triumph der Liebe“ gehören die Abbildungen Herrscherin, Herrscher, Päpstin, Papst, Mässigkeit, Liebe, Triumphwagen, Kraft; zum „Triumph des Todes“ das Rad des Schicksals, Gehängter, Tod, Teufel, Blitz oder Haus Gottes; zum „Triumph der Ewigkeit“ Stern, Mond, Sonne, Engel, Gerechtigkeit und Welt. Narr und Magier stehen ausserhalb der 3 Gruppen (Quelle: Webseite der Stadtverwaltung Konstanz).
 
Die 22 einzelnen Werke, die aus verschiedenen Perspektiven immer neue Kombinationen ergeben, aber ein zusammenhängendes Ganzes sind, ersetzen seit dem 28. April 2007 (dem Tag der Einweihung) hier den Grenzzaun aus Eisenstangen und Maschendraht, der 1973 errichtet worden war, als das Land durch Ablagerungen gewonnen war. Kleine Tafeln mit den Landeswappen „Schweiz“ gegen die Schweizerseite und „Deutschland“ auf der deutschen Seite zeigen den exakten Grenzverlauf diskret an.
 
Hier reichte der Bodensee (Obersee) bis in die 1950er- und 1960er-Jahre weiter ins Landesinnere. Doch dann wurde er in diesem Gebiet mit allerhand Abfall (offenbar inkl. Sondermüll) zugeschüttet. Die Landesgrenze auf dem neu gewonnenen Land mit einem Wall wurde durch einen Maschendrahtzaun markiert. Fussgänger und Velofahrer konnten die Grenze durch ein Tor überqueren. Das aufgeschüttete Gebiet wird von den Einheimischen „Klein Venedig“ genannt.
 
Holzwand und Maschendrahtzaun
Die Kunstgrenze, neben der auf Kreuzlinger Seite auch ein kleines Trockenbiotop markiert ist, hört vor den Bahnanlagen (bei Hafenstrasse und Seestrasse) auf, aber die Landesgrenze als solche ist dort selbstverständlich noch lange nicht beendet, nur weniger attraktiv markiert. Sie besteht ab hier aus aufgestellten, morschen Holzbrettern, die von einem Maschendrahtzaun nach oben verlängert (bis auf eine Höhe von 2,5 Metern) werden und manchmal sogar noch von einem Stacheldraht gekrönt sind.
 
Zuerst muss die Landesgrenze, die bei jeder Ecke mit einem fortlaufend nummerierten Grenzstein aus Granit markiert ist, die vielen Bahngeleise südlich des Bahnhofs Konstanz D überqueren. Dort ist auch eine Fussgängerüberführung, von der aus der Verlauf des Holz-Drahtzauns in diesem Sektor gut zu sehen ist. Gleich nach den Bahnanlagen knickt die Grenze nach Norden ab und begleitet die Wiesenstrasse, dreht hinter der Zollstrasse rechtwinklig nach West und folgt der Grenzstrasse bis zum Grenzübergang Konstanz–Kreuzlinger Tor. Das langgestreckte Zollgebäude steht je zur Hälfte auf deutschem und auf schweizerischem Gebiet, und der Maschendrahtzaun steuert von Osten her mitten auf dieses Haus mit seinem unterschiedlichen Aussehen je nach Land zu. Es handelt sich um einen Zweckbau ohne höhere architektonische Ansprüche. Auf der Rückseite wurde das Modell eines Storchs aufgestellt; vielleicht war ein Zöllner Vater geworden, denn trotz der teilweisen Abschaffung der Grenzen sollten sich auch Zöllner vermehren – sicher ist sicher.
 
Meine Wanderung zwischen Bahnhof Konstanz und dem Zollübergang Kreuzlinger Tor am 5. August 2007 war nicht das, was man unter das Lustwandeln in einer fantastischen Umgebung verstehen mag. Sie führt durch banale Stadtquartiere und erhält ihren bescheidenen Reiz einzig dadurch, dass man an der Landesgrenze entlang geht, deren Zaun noch ein Relikt aus dem 2. Weltkrieg ist (er hatte den Übertritt von Flüchtlingen zu verhindern). So grenzt der Grenzzaun zum Beispiel an private Gärten an, und er kann als Kletterhilfe für Pflanzen mit alpinistischem Talent verwendet werden oder als Mehrzweck-Befestigungsmöglichkeit dienen. Jedenfalls stört er die Gartenbesitzer überhaupt nicht, zumal sie nicht für dessen Unterhalt verantwortlich sind (in diese Kosten teilen sich die Länder Deutschland und Schweiz brüderlich bzw. abschnittsweise). Zudem vermittelt er ihnen auch ein gewisses Gefühl von Sicherheit, wenn er nicht, wie an einigen Orten, auf 1,2 m verkürzt worden ist.
 
Die Bedeutung eines Maschendrahtzauns war schliesslich auch im September 1999 offensichtlich geworden, als es in der sächsischen Stadt Auerbach zu einem Nachbarschaftsstreit kam. Regina Zindler hatte von ihrem damaligen Nachbarn Gerd Trommer verlangt, einen Knallerbsenstrauch zu entfernen, weil dieser sich angeblich anschickte, ihren Maschendrahtzaun zu beschädigen. Stefan Raab, der Bengel von SAT1, vertonte diese Sache. Der Refrain des englischen Songs lautet (frei übersetzt): „Maschendrahtzaun am Morgen, Maschendrahtzaun zu später Stunde. Maschendrahtzaun am Abend. Maschendrahtzaun gibt mir ein gutes Gefühl. Und wenn ich einmal König bin und ich eine Krone bekomme, wird diese sicherlich aus Maschendrahtzaun gemacht sein.“ (Originalton: „Maschendrahtzaun in the morning, Maschendrahtzaun late at night. Maschendrahtzaun in the evening, Maschendrahtzaun makes me fell alright. And if I ever be king, and I get a crown, then it would surely be made of Maschendrahtzaun.”)
 
Der Maschendrahtzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen begrenzt nicht nur Privatgrundstücke mit ihren Vorgärten und Erbsenpflanzen, sondern auch Bahnanlagen (was den Bahnunternehmen nur recht ist), auch Strassen; er führt durch parkähnliche Wiesen, vorbei an Wegen, oder aber er unterbricht eine Strasse. Der Konstanzer Historiker Arnulf Moser hat einmal vieldeutig festgestellt, der Zaun habe sich tief ins Bewusstsein der Menschen auf beiden Seiten eingeprägt.
 
Beim Zollübergang Kreuzlingen Tor sprach ich den Dienst habenden Teamchef-Stellvertreter des Grenzwachtpostens, Hubert Heller, an, der mir fachkundig Auskunft gab und dem ich viele Informationen für dieses Blog verdanke. Zudem zeigte er mir einen Schachtdeckel (Gullydeckel), der höchstpersönlich als Grenzstein (bzw. Grenzdeckel) dient; der eigentliche steinerne Grenzstein soll im Schacht sein. Auf dem gusseisernen Deckel (Grenzstein Nr. 15) ist der abgeknickte Grenzverlauf genau wie immer oben auf Grenzsteinen markiert, und es steht reliefartig „DEUTSCHLAND“ und „SCHWEIZ“ (auch „MARKE“) darauf. Wahrscheinlich ist ein Schutzmechanismus gegen das Umdrehen eingebaut.
 
Ich folgte in den fortgeschrittenen Abendstunden dann der Grenze und dem hohen Grenzzaun aus Draht noch bis zum Zollamt Kreuzlingen-Emmishofen. Er führt hinter Häusern durch und begleitet die Grenzstrasse, die auch Grenzzaunstrasse heissen könnte.
 
Grenzen und Menschen
In dieser verschachtelten Agglomeration Konstanz/Kreuzlingen mit ihren über 100 000 Einwohnern, wovon etwa 17 500 auf Kreuzlingen entfallen, gibt es also noch sichtbare Grenzen auf einer Strecke von rund 1,5 km. Offenbar will und braucht der Mensch Grenzen, die ihm „bis hierher und nicht weiter sagen“; solche Grenzen will man nach einer Phase des Laisser-faire auch wieder vermehrt in die Erziehung der Kinder einfliessen lassen.
 
Nach anderen Auffassungen sollten keine Grenzen vorhanden sein, die geografische Bereiche von einander trennen, weil es (laut Christian Morgenstern) „keine Grenzen der Dinge“ gibt, einfach deshalb, so vermute ich, weil alles irgendwie miteinander verbunden ist. Ein Gegner der Sichtbarmachung von Grenzen, selbst in Form einer Kunstgrenze, ist auch der Künstler Peter Zahrt. Er befürchtet, dass diese Grenze als Schaustück dazu motivieren könnte, die Grenze in ihrer ursprünglichen Ausprägung wieder aufzubauen, allenfalls wegen geringfügiger Meinungsverschiedenheiten wie über den Eintrittspreis für die Seenachtsfeste. In Konstanz (11. August 2007) müssen von Erwachsenen 15 Euro Eintrittspreis bezahlt werden, und Kreuzlingen konterte mit dem gleichzeitig stattfindenden Fantastical, das mit einem freien Zutritt lockt ... Das animiert zum Grenzgängertum, wenn dieses nicht eingeschränkt ist.
 
In Konstanz hat das Feuerwerk eine 500-jährige Tradition: Wenn man der Stadtchronik Glauben schenken darf, haben 1507 einige Bürger mit Schwarzpulverfässern ein feuriges, rauchendes Spektakel zu Ehren von König Maximilian vom Stapel gelassen. So fantastisch Festivitäten mit den Hightech-Feuerwerken mit ihrem Pulverdampf auch sein mögen, Anlass zu Grenzstreitereien dürfen sie nicht sein. Da die Feuerwerkkörper soeben von Kreuzlingen und Konstanz als gemeinsame Aktion von Lastkähnen aus abgeschossen wurden, scheint es denn auch, als ob heute ein gutes Einvernehmen herrsche.
 
Mir persönlich imponiert die beschauliche Kunstgrenze mehr als alle Feuerwerke zusammen, gerade weil sie nicht als Abschussrampe für stinkende Geschosse konstruiert ist, sondern sich in aller Stille dem Menschentum mit seinen immer wieder erstaunlichen Irrungen und Windungen zuwendet.
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos können zu all diesen Beschreibungen beim Textatelier.com bezogen werden.)
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