Textatelier
BLOG vom: 26.09.2007

Erlebnisse im Kantonsspital Aarau (1): Volkssport Krankheit

Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen CH (ANL AG, Aarau)
 
Die Diagnose: 10.08. bis 16.08.2007
„Herr Keller, möchten Sie bitte nochmals zum Ultraschall kommen.“ Kurz bevor ich wieder angekleidet und wohlgemut das Röntgeninstitut nach verschiedenen Untersuchungen verlassen wollte, holte mich die freundliche Pflegefachfrau nochmals zurück: „Der Herr Doktor möchte Sie nochmals sehen.“ 
 
„Morgens um 07.30 Uhr, nüchtern und mit voller Blase“, lautete das Aufgebot nach Aarau. Mit nüchtern meint das medizinische Personal nichts trinken und nichts essen und nicht etwa nicht angetrunken. Alkohol im Spital wird nur zur Reinigung eingesetzt, für den Körper ist so etwas tabu. Ich werde nett empfangen und sofort in einen kleinen fensterlosen Raum geführt. „Kleiden Sie sich bitte aus und legen Sie sich auf diese Liege, der Herr Doktor kommt sofort.“ Ein bleicher, zuvorkommender Herr erscheint, stellt sich vor und erklärt mir, was er vorhat, beziehungsweise für welche Untersuchungen mich mein Hausarzt „eingewiesen hat“. Ich sage ihm: „Ich weiss ja, was ich habe, nämlich einen Wasserbruch (stark vergrösserter Hoden), den ich gern operiert haben möchte, und eine Gürtelrose, die mich stört, der aber niemand Beachtung schenken will. Und jetzt gehen Sie vor wie beim Suchen von Pilzen: Wer sucht der findet.“ Er schaut mich etwas erstaunt an, lächelt freundlich und hält fest: „Der Ausdruck steht eher in der Bibel als im Pilzbuch.“ Das weiss ich nicht. Was ich aber sicher weiss: „Wenn Sie etwas finden, was nicht Ihrer Norm entspricht, dann bekomme ich ein Problem mit den Ärzten.“ Lächelnd bestätigt er diesen Sachverhalt und beginnt mit der Untersuchung. Der Bauch wird eingeschmiert und mit einem runden Metallteil abgesucht. Der Arzt schaut gebannt auf den Monitor, betätigt Tasten und Computermäuse. Ab und zu druckt er ein Bild aus. Er ist zufrieden mit mir. Diese Tatsache werden wir im Laufe der Geschichte noch oft erleben: Der Arzt muss zufrieden sein, dann geht es dem Patienten gut. Er schickt mich weiter ins Wartezimmer und zur Computertomographie.
 
Inzwischen bin ich schon etwas auf Untersuchungen getrimmt und lasse die Sache halt über mich ergehen. „Herr Keller, wir stecken Ihnen jetzt eine Infusion in die Armvene, damit wir Ihnen ein Kontrastmittel verabreichen können. So machen wir zuerst Bilder ohne und nachher mit Färbemittel, damit wir sehen, wie die Nieren arbeiten.“ Fast werde ich wieder leicht erregt: „Können Sie mir eigentlich sagen, was Sie hier untersuchen?“„Ja, der Hausarzt hat Sie eingewiesen und diese Abklärungen angekreuzt?“ Ich begreife nicht, was das mit meinen körperlichen Beschwerden, die ich behandelt haben möchte, zu tun hat. Aber diskutieren nützt im Moment nichts, denn die Leute hier machen nur ihren Job. Auch diese Tatsache (organisatorische Hürde zwischen Patient und Arzt) werden wir noch oft begegnen. Ich gehe geistig auf Stand-by und lasse die Sache über mich ergehen. Für das gute Verhalten (die gute Mitarbeit) werde ich noch gelobt.
 
Und dann kommt eben der freundliche Herr Doktor wieder. Jede Zuversicht und jeder Spass ist aus seinem Gesicht gewichen: „Ich möchte nochmals Ihre rechte Niere sehen. Auf den Bildern habe ich da einen kleinen Wulst entdeckt.“ Mich schockt das im Moment überhaupt nicht: „Dann habe ich jetzt das angekündigte Problem mit den Ärzten?“, frage ich. „Herr Keller, Sie haben Glück im Unglück: Das Ding (der Tumor) ist noch relativ klein und kann gut entfernt werden. Sicher sehen wir die genaue Grösse auf den Bildern der Computertomographie, ich mache sofort einen Bericht an den Hausarzt, und Sie werden von ihm hören.“ Ich begreife echt nicht, was das mit Glück zu tun haben soll, und frage nach: „Herr Keller, das Ding muss raus.“ Kurz, knapp und bündig bin ich entlassen. An sich habe ich auch kein Bedürfnis für weitere Diskussionen.
 
Ich gehe ins Büro, arbeite etwas für mich, gehe nach Hause und lebe eigentlich ganz gut. Am Samstagmorgen habe ich noch einen Termin und einen Augenschein mit einem Reporter wegen der verfahrenen Situation um die Probebohrungen für einen gigantischen Steinbruch auf dem Bözberg (www.pro-boezberg.ch). Einmal mehr äussere ich mich unverblümt und nehme kein Blatt vor den Mund. Was nicht recht ist, ist nicht recht. Den Tag verbringe ich im Garten, bis am Abend mein Bruder, der Hausarzt, persönlich auftaucht.
 
„Hier ist die Diagnose." So und so viele Zentimeter gross, „ein abgrenzbarer Tumor in der rechten Niere. Die Sache ist gefährlich. Die Niere muss raus. Mit einer Niere kann man problemlos leben. Jetzt ist noch Zeit. Wenn das Ding wächst, ist es zu spät, dann kann Dir niemand mehr helfen.“ Ich sage: „Ihr wisst ja gar nicht, wie alt der Tumor ist und ob er wirklich wächst. Schliesslich bin ich seit über 5 Jahren nicht mehr bei einem Arzt gewesen.“ Er lässt sich nicht erweichen; er redet auf meine Frau ein, er redet auf mich ein: „Wir brauchen Dich noch, wir können Dich nicht einfach sterben lassen. Ich kann Dir Unterlagen (Statistiken) bringen. Gehe zu jedem Arzt, zu dem Du willst: Sie werden Dir alle das gleiche sagen: Mit Nierenkrebs ist nicht zu spassen." Ich will ja auch nicht spassen, und so lasse ich mich buchstäblich weichklopfen für einen raschen Termin im Kantonsspital Aarau (www.kas.ch).
 
Ich hasse Spitäler – auch wenn ich ihre Notwendigkeit einsehe. Eine freundliche Dame telefoniert wegen des Termins: „Der Herr Professor hat am Donnerstag um 16.30 Uhr Zeit für Sie. Können Sie kommen?" Nach einigem Zögern sage ich zu, obwohl ich an diesem Tag eine ganztägige Sitzung auf der Engstlenalp (BE), auf die ich mich echt freute, abgemacht hatte. Aber wenn der Herr Professor sich schon Zeit nimmt, dann soll es an mir nicht liegen.
 
Die Sitzung auf der Engstlenalp verläuft wirklich gut. Ich geniesse die frühe Fahrt vom Fricktal über den Brünig und Innertkirchen in die verregnete Einsamkeit der Bergwelt. Für den Nachmittag melde ich mich ab und verlasse die engagiert zufriedene Teilnehmerrunde, als das anmächelige Mittagessen (Älplermakronen, Fleisch, Getränke und Dessert in riesigen Portionen) aufgetischt werden. Mir wäre auch eine halbe Portion zu viel gewesen. Ruhig fahre ich zurück nach Aarau.
 
Die Urologie finde ich dank des Schildermeers problemlos. Was es auch alles für Abteilungen im Spital gibt! Die freundliche Dame empfängt mich: „Ah, der Herr Keller. Ja, ja, ihr Bruder hat sie geschickt.“ Sie lobt ihn als vernünftigen und originellen Partner. „Haben Sie die Bilder dabei? Dann können Sie gleich mit dem Herrn ,Pflegefachmann’ in eines der Untersuchungszimmer; der Herr Professor kommt sofort.“ Fensterlos das Zimmer, Tische, Computer, eine Liege, 3 Stühle, Gestelle, Schachteln, Papier und alles in Weiss. „Darf ich Sie etwas fragen?“„Natürlich.“„Sind Sie der Heiner Keller vom Naturschutz?“ Ohne zu zögern bejahe ich. Der Pflegefachmann blüht auf: „Ich lese alles, was Sie schreiben. Es braucht so Leute wie Sie.“ Ich wiegle etwas ab. Und dann kommt der Herr Professor.
 
Gross, sportlich, dynamisch, sicher, hochdeutsch. „Sie sind der Herr Keller vom Naturschutz? Ja ja, ihr Bruder hat Sie geschickt. Zeigen Sie bitte mal die Bilder.“ Aus der Menge der Aufnahmen wählt er 3 aus, knallt sie an die Leuchtwand, betrachtet sie kurz, und dann wendet er sich mir zu: „Das Ding muss raus. Schauen Sie, wir machen das so: Der Tumor ist schön abgegrenzt, auf die Niere beschränkt. Ich skizziere Ihnen, was ich machen werde: Wir operieren nicht mit dem Computer, sondern ich öffne Ihnen den Bauch und nehme nur den oberen Teil der Niere weg. Den unteren Teil behalten Sie. Bei dieser Art der Operation haben wir hier im Haus eine grössere Erfolgsquote als normal (über 95 Prozent). Wir haben ganz selten Infektionen. Sie bleiben 10 bis 12 Tage im Spital und gehen nachher geheilt nach Hause. Es gibt Kollegen, die verschreiben nachher noch einen Kuraufenthalt. Ich mache das nicht, weil es nicht nötig ist.“ Der letzte Satz gefällt mir.
Trotzdem fange ich nochmals mit der Diskussion an: „Wissen Sie, ob der Tumor wächst oder nicht?“„Das kann Ihnen niemand sagen. Sicher ist einfach, wenn er wächst und über die eine Niere hinauswuchert, können wir nichts mehr machen.“ „Für mich heisst das: Wenn Sie mich operieren, haben Sie einen weiteren positiven Befund, dass Nierenkrebs im Frühstadium heilbar ist, weil die Fälle, wo der Tumor von alleine nicht weiter wuchert, auch als ‚durch Operation geheilt’ taxiert wird.“„Das ist so", bestätigt er.„Mir kommt es vor wie beim Unkraut im Garten: Wenn die Bedingungen für das Unkraut stimmen, dann kann ich alle Jahre am selben Ort ausstechen so viel und so gründlich ich will. Es kommt immer wieder.“„Herr Keller, das ist bei dieser Art Tumor nicht so: Ich schneide Ihnen das Ding weg, Sie sind es los und es kommt nicht wieder.“„Wie lange kann ich warten?“„Ich würde nicht warten, sondern ich rate zu schneller Operation.“ Nach kurzem Zögern sage ich: „Herr Professor, ich glaube Ihnen und vertraue voll auf Sie.“„Gut, machen Sie mit der Sekretärin einen Termin für die Operation ab“, und ich bin entlassen.
 
Fazit: Warum bin ich eigentlich zum Hausarzt gegangen? Ich hatte seit einiger Zeit den vergrösserten Hoden (mit einem kurzen ärztlichen Blick) als Wasserbruch identifizierbar und Schmerzen in der linken Brust- und Rückenseite. EKG, Röntgenbild der Brust, Horchen, Klopfen und was weiss ich, geben keinen Hinweis auf irgendwelche Probleme, ausser auf einen zu hohen Blutdruck. Mit Tabletten bin ich entlassen – und werde zu weiteren Untersuchungen aufgeboten (siehe oben). Die Schmerzen in der Brust entpuppen sich eine Woche später als ausgewachsene Gürtelrose. Wasserbruch und Gürtelrose verlieren angesichts der Niere jedes Interesse der Ärzte.
 
Ich habe einen kleinen Tumor in einer der Nieren, von dem ich nichts merke. Theoretisch gibt es 3 Möglichkeiten: Man kann den Befund gegen die ärztliche Besorgnis (und gegen die Ängste der Verwandten) ignorieren und der Sache ihren Lauf lassen. Man kann weiter untersuchen und zuwarten, was am Risiko und an einer späteren Entscheidung nichts ändert. Man kann es machen, wie es die gute fachliche Praxis der Ärzte vorsieht: Vorsorglich ex und hopp. Ich lege grossen Wert auf die Feststellung: Ich bin nicht eigentlich krank und habe keine Beschwerden. Die Operation ist ein vorsorglicher Eingriff, die mir ein längeres Leben garantieren soll. Die Sache ist technisch vergleichbar mit einem Überschwemmungsrisiko bei Hochwasser: Wenn bekannt ist, dass unter einer Brücke bei einem grossen Hochwasser zu wenig Wasser abfliessen kann, besteht die Gefahr, dass die Brücke mitgerissen wird und Überschwemmungen entstehen können: Was kann man machen? Die Möglichkeiten sind doch genau die gleichen wie bei meinem kleinen Tumor:
 
Warten (wenn Sie sich getrauen, vielleicht passiert nichts), weiter abklären (nützt nichts) oder die Brücke vorsorglich sanieren. Auch hier wählt man die Lösung 3, weil niemand die Verantwortung für Lösung 1 übernehmen will. Einzig die langsamen Mühlen der Verwaltung, der Politik und der Kredite verzögern rasche Lösungen.
 
Die Entscheidung ist gefallen: Jetzt muss ich sie nur noch meinen Arbeitskolleginnen, den Kollegen und den Auftraggebern mitteilen.
 
Fortsetzung folgt.
 
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