Textatelier
BLOG vom: 07.10.2007

Erlebnisse im Kantonsspital Aarau (7): Die Bescherung

Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen CH (ANL AG, Aarau)
 
Die Bescherung: 18.09. bis 19.09.2007
 
Am Morgen ist die Bescherung da: Mein Pyjama und das Bett sind auf meiner rechten Seite, auf der Seite der 30 cm langen Bauchwunde, ganz nass und verschmiert. „Was hast Du denn da?“ fragt meine Frau beim Aufwachen mit weit geöffneten Augen: Die Bauchwunde, die bisher wunderbar trocken war, hat sich auf einer Länge von 20 cm geöffnet. Gelber Schleim tritt aus der Wunde aus. Endlich sieht es aus wie in einem Spital, denke ich sichtlich erleichtert: Eiterriemen haben wir doch früher die Cremeschnitten genannt. Der Körper entledigt sich auf seine Weise der Stoffe, die er nicht mehr braucht. Er hat einen Weg gefunden, wie er den Eiter loswerden kann.
 
Eigentlich bin ich froh darüber. Ich habe keine Schmerzen und keine Schüttelfröste, also kann es ja auch nicht gefährlich sein. Meine Frau sieht das ähnlich und verfolgt die Entwicklung mit Interesse. Sie reinigt die Wunde und macht einen neuen Verband.
 
Am Nachmittag bin ich für eine kleine Blutuntersuchung zu meinem Hausarzt bestellt. Für die kleine Analyse braucht er immer nur einen Tropfen Blut, nicht röhrchenweise wie das Spital. Natürlich will er auch die Wunde sehen und reisst den Verband ab. Die Arztgehilfin hat so etwas noch nie gesehen: „Woher haben Sie denn das?“ – „Kantonsspital Aarau“, sage ich, was ihr ein „Uuiiuiiuiiu“ entlockt.
 
Das Verbinden in der Praxis erweist sich als schwierig. Hausarztpraxen sind heute offensichtlich nicht mehr für so aussergewöhnliche Fälle ausgerüstet. Gegenüber dem modernen Verbandsmaterial in den Spitälern kommen mir die Pflaster wie ehemaliges Armeematerial vor: Kaum mehr abreissbar, dafür viele Gummireste auf der malträtierten Haut.
 
Gut ausgerüstet mit Rezepten für Verbandsmaterial werden wir wieder nach Hause entlassen. Ich sage meinem Bruder, dem Hausarzt, noch: „Ich rücke heute aus meinem Urlaub nicht wieder ein ins Spital. Ich bleibe zu Hause und werde der Administration des Kantonsspitals Aarau ein entsprechendes Mail schicken. Ich habe schlicht keine Lust auf die Rituale des Spitals und fühle mich zu Hause wohl aufgehoben. Auch den Ärzten und den Abmachungen gegenüber fühle ich überhaupt keine Verpflichtungen mehr. Zu oft wurde ich angelogen.“ Mein Bruder murmelt, er werde mit den Ärzten im Spital reden.
 
Am Abend beim Mailen am Computer stelle ich auf einmal fest, wie ein 2 cm breites gelbes Bächlein über meine Trainerhose, der Schwerkraft folgend, Richtung Boden rinnt. Alles fliesst, denke ich, suche ein Tuch und begebe mich ins Badzimmer. Obwohl nichts weh tut, macht mailen so keinen Spass. Meine Frau ist stark beschäftigt mit Reinigen, Verbinden, Verband wechseln, Entsorgen. Sie hat den Dreh raus und sagt: „Das mache ich eigentlich ganz gerne. Man sieht, dass etwas passiert.“ Ich dämmere vor mich hin. Und dann, gegen halb 10 Uhr, läutet das Telefon Sturm. Es hört einfach nicht mehr auf. Normalerweise nehmen wir um diese Zeit keine Telefone mehr entgegen.
 
Meine Frau geht ran. Es ist mein Bruder. Aufgelöst. Meine Frau sagt ganz leise: „Du kannst selber mit ihm reden“ – und bringt mir das Telefon: „Weisst Du“, beginnt er, „was Du da machst, ist brandgefährlich.“„Ich weiss“, erwidere ich, „das habe ich mit dem Herrn Professor schon besprochen: Seit ich im Spital war, wird es immer gefährlicher. Und es sind immer die Ärzte, die von Gefahren reden. Ich habe weder Schüttelfrost noch Schmerzen, noch hoch Fieber, und der Eiter rinnt.“„Ja, das ist es ja gerade. Der Eiter kann irgendwo eine Blutbahn treffen, dann hast Du eine Blutvergiftung. Es kann das und das passieren, dann bekommst Du einen Kollaps.“„Ach, tu doch nicht so. Das Risiko ist immer bei mir. Ich fühle mich nicht unwohl, und wenn etwas ist, bringt mich meine Frau ins Kantonsspital Aarau.“
 
Mein Bruder ist wirklich besorgt. Er hat offensichtlich herumtelefoniert und bei allen Ärzten in der Familie Erkundigungen eingezogen: „Ich trage die Verantwortung für Dich. Ich weiss nicht, ob unsere Entscheidung, nicht mehr ins Spital zu gehen, richtig war.“ Sein Sohn, der das Staatsexamen bestanden hat und am Universitätsspital in Zürich mit irgendwelchen Krankheitserregern doktoriert, hat auch gemeint: „Hol’ den Kerl von zu Hause ab und bringe ihn ins Spital.“ Ich behaupte, ob ich hier oder dort liege, ändere an der Sache wohl auch nichts. Er gibt sich halbwegs geschlagen und sieht einer schlaflosen Nacht entgegen: „Ich habe Dich für morgen früh als Notfall ins Röntgeninstitut Brugg angemeldet. Nachher kommst Du zu mir in die Praxis, und wir sehen weiter.“
 
So ist es halt, wenn man so viele Ärzte und vor allem junge Ärzte in der Familie hat, denke ich. Erst dann bemerke ich meine Frau. Sie liegt still neben mir im Bett und flüstert: „Ich kann nicht mehr.“„Ja, was ist denn jetzt passiert? Bis jetzt ist es doch so gut gegangen.“„Ach das Telefon. Ich weiss nicht mehr, was ich machen soll.“„Ignorieren“, sage ich. „Jetzt haben wir doch so gut angefangen. Du machst das gut, hast Freude daran. und jetzt soll auf einmal alles anders sein.“„Ja aber, wenn Dein Bruder doch Recht hat ..?“– „Mit was? Ich verstehe ja, dass er sich wegen der Verantwortung Sorge macht. Aber was ändert das? Und die Verantwortung liegt doch ganz bei mir. Mir ist es wohl hier, und im Spital läge ich genau gleich da, einzig mit dem Unterschied, dass ich alle 4 Stunden geweckt würde. So und jetzt schlafen wir und lassen passieren, was passiert.“ Ich glaube fast, ich bin derjenige von den Beteiligten, der diese Nacht am besten geschlafen hat.
 
Tagwache um 6 Uhr, waschen, neuer Verband und kurz vor 8 Uhr Eintreffen im Medizinischen Zentrum in Brugg. Anstatt eines Frühstücks erhalte ich wieder eine Kanne Wasser, die in einer halben Stunde auszutrinken ist. Wie schon letztes Mal halte ich mich wieder im Gang auf, wo die Luft weniger nach Spital riecht. Eine Ambulanz bringt eine mit vielen Decken eingepackte Frau. Sie liegt still, hat Schmerzen und muss warten. Sanitäter in hohen Schuhen und Montur trampen herum. Ich bekomme wieder eine Infusion mit Kontrastmitteln, lege mich auf den Schragen und werde durch den Computertomographen, der wieder wie ein Willisauer-Ringli aussieht, gefahren. Das Prozedere verläuft rasch, die Untersuchung wird langsam zur Routine. Ankleiden, warten, fertig.
 
Die kompetente Ärztin holt mich aus dem Wartzimmer ab: „Herr Keller, ich möchte Ihnen die Bilder zeigen.“„Frau Doktor, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen? Darf Sie auch mitkommen?“ – „Selbstverständlich.“ Die rund 1400 Bilder werden im kargen, fensterlosen Raum auf den Bildschirm geladen. Und wieder beginnt die virtuelle Reise durch meinen Körper. Fasziniert schaut meine Frau, wie die Frau Doktor um die Leber kurvt, hier rasch ein Stück Darm erwähnt, die Niere zeigt und auf die bekannte Flüssigkeit zu sprechen kommt. „Was ist das, und was ist das?“, fragt meine Frau. Die Ärztin gibt geduldig Antwort. „Wie viel Flüssigkeit ist das?“ Die Ärztin schaltet ein weiteres Programm zu, markiert einen Bereich auf dem Bildschirm, fügt eine Zentimeterskala ein, dreht die ganze Sache, misst erneut, rechnet im Kopf und sagt: „Es dürften ziemlich genau 200 Milliliter (2 Deziliter) sein.“ – „Woher kommt die Infektion?“ – „Ja, das kann es nach Operationen halt geben“, meint sie.
 
Ich sage vorerst nichts. Irgendwie hat das Ganze wie nichts mit mir zu tun. Vielmehr erstaunt bin ich darüber, dass man auf vielen Bildern so etwas wie einen Vorhang, einen Schleier durch meinen Körper, erkennt. Am Schleier aufgehängt sind Fetzen, länglichen Schneeflocken ähnlich, zu erkennen. Der Schleier endet an meiner Bauchwand mit der Wunde. „Ist das der Eiter, der bei der Wunde austritt?" Ohne zu zögern bestätigt die Ärztin mit einem „Ja“. Ich finde das grossartig. Die Ärztin sucht schöne Bilder vom Schleier und siehe da: „Der Schleier reicht von meiner Wunde bis zur diagnostizierten Flüssigkeit. Ja, hier hat sich der Körper einen Zugang beziehungsweise einen Ausgang geschaffen. Ich finde, das ist ja gut so. Jetzt brauchen wir nur noch zu warten und die Sache kommt in Ordnung.“ Die Ärztin surft weiter, überlegt und meint dann: „Vielleicht haben Sie Recht. Aber sehen Sie: Die Verbindung zur Flüssigkeit ist sehr eng. Der Weg ist weit, und die Menge der Flüssigkeit ist hoch. Ich glaube nicht, dass der Körper das in vernünftiger Zeit schafft. Ich meine, die Flüssigkeit muss entfernt werden.“ Also sind wir gleich weit wie vor einer Woche.
 
Dass die Punktierung im Kantonsspital Aarau vor einer Woche gescheitert ist, kann die Ärztin bei aller Diplomatie nicht recht begreifen: „Ich meine, das müsste möglich sein. Die haben doch Leute, die das können.“ Sie hat sich sehr viel Zeit genommen für uns. Ich bedanke mich höflich, und sie eilt weiter zur Notfallpatientin.
 
Die Bilder haben unterschiedlich auf meine Frau und mich gewirkt. Die Wahrnehmung ist persönlich, auch wenn die Information ruhig und umfassend erfolgt. Sie sieht viel mehr die Flüssigkeit – um nicht zu sagen: den Eiter –, und ich bin viel zuversichtlicher: Mein Körper arbeitet in die richtige Richtung und ein Eingriff ist möglich. Mein Hausarzt fackelt nicht lange: Kleiner Bluttest, Einpacken der Diagnose und der Bilder und Einweisung in die Notfallstation des Kantonsspitals Aarau passieren praktisch gleichzeitig. Er sieht müde aus, mag nicht mehr diskutieren und bestimmt über meine Frau: „Nimm ihn, bring ihn nach Aarau in die Urologie, ich werde die Ärzte dort avisieren.“ So sind wir entlassen.
 
Ich weiss kaum mehr, wie mir geschieht. Irgendwann wird man zu schlapp, um sich einzumischen. Die Blutwerte und die Bilder der Maschine bestimmen den weiteren Weg. Schweigend sind wir unterwegs. Glücklicherweise braucht das Auto noch Benzin. So ergattere ich in der Tankstelle noch ein Gipfeli und eine Flasche Orangina. Ich weiss nicht, weshalb ich auf einmal nach einem Getränk, das nach meinem Empfinden so einen künstlichen Geschmack hat, Lust habe. Auf jeden Fall mampfe und trinke ich und geniesse die Fahrt nach Aarau.
 
Fortsetzung folgt.
 
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