Textatelier
BLOG vom: 18.10.2007

Abschied vom „Glückscht“, unserem gemütlichen Zuhause

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
„Abschiedlich leben“. Diesen Begriff hat mir Karl vermittelt, ein Verwandter aus der Elterngeneration. Er war Chronist, lebte im Sihltal. Nach seinem 70. Geburtstag begann er, seine umfangreiche Dia-Sammlung zu durchforsten und jenen Menschen oder Institutionen Bilder zu verschenken, die in einem Zusammenhang mit ihnen standen. Es konnte vorkommen, dass er plötzlich vor unserer Haustür stand und ganz selbstverständlich annahm, dass ich Zeit hätte für eine Dia-Schau. Ich musste ihm dann das cremefarbene Rouleau vor dem Küchenfenster herunterlassen, damit er mir Bilder zeigen konnte, bevor er sie weggab. Aufnahmen aus dem Zürcher Oberland, Stimmungsbilder der Jahreszeiten, historische Gebäude usw. Ja, er wusste genau, dass wir ähnlich schauten und von Gleichem fasziniert waren und dass mir seine Aufnahmen gefielen.
 
Als er starb, sagte der Pfarrer nach der Abdankung, es sei noch nicht bekannt, ob Karl seine Kamera ins Jenseits mitgenommen habe.
 
Wenn er seine Dias zum Verschenken bereit machte, erlebte er einen Teil seines Lebens rückwärts. Gab er sie dann weg, hatte er einen für ihn wichtigen Abschied vollzogen. Er fühlte, dass er leichter wurde. Und als der Tod kam, waren da keine Fesseln mehr, die ihn zurückhielten. Nachdem er sich vergewissert hatte, wie seine Arbeiten geschätzt wurden, konnte er alles loslassen.
 
Nun steht dieser Titel „Abschiedlich leben“ auch über meiner Familie. Der Besitzer unseres gemieteten Bernoulli-Reihenhauses fordert es für die eigene Familie zurück. Er gibt uns viel Zeit für die Suche einer neuen Behausung. Wir werden alle Jahreszeiten nochmals bewusst erleben dürfen.
 
Seit 1971 leben wir hier. Wir konnten dieses Reiheneinfamilienhaus mit seinem Garten mieten, weil der Besitzer der Meinung war, es gehöre einer Familie. Viele Jahre redeten wir nur vom „Glückscht“, nach der damals 7-jährigen Felicitas, die das Haus sofort als das „glückschtä“ (das glücklichste) erkannt hatte.
 
Nun habe ich gerade jenen Begleitbrief wieder gelesen, den der Hausmeister dem Vertrag damals beigelegt hatte. Es heisst da: „Die Mietverträge sind, wie Sie sehen, vom Zürcher Hauseigentümerverband ausgestellt und beinhalten verschiedene komplizierte Artikel, die automatisch übernommen werden müssen. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir bei eventuellen Unstimmigkeiten bestimmt einig werden. Ich wünsche mir verträgliche und saubere Mieter, die ich in Ihnen bestimmt ausgewählt habe. Meine Mieter müssen sich jedoch auch wohl und zufrieden fühlen in ihrem neuen Heim.“
 
Das waren beste Voraussetzungen, die sich auch erfüllt haben. Ich erwähne diese Haltung für Aussenstehende, die vielleicht von Klischeevorstellungen beeinflusst sind und viele Zürcher Liegenschaftenbesitzer generell als harte Verhandlungspartner und nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtet einschätzen.
 
Nun trägt der Sohn unseres Hausmeisters die Haltung seiner Eltern weiter. Und wir nehmen Abschied. Karl gab seine Fotos damals aus den Händen. Und ich fotografiere jetzt erst recht. Vor allem aber nicht mit einer Kamera, sondern mit dem Herzen.
 
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