Textatelier
BLOG vom: 30.04.2008

Persepolis (3) – Der Fundamentalismus auf Hochtouren

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Die Hochkonjunktur der Fundamentalisten lief auf Hochtouren. Die amerikanische Botschaft wurde besetzt. Niemand kriegte mehr ein Visum für die Einreise ins gelobte Land. Marjanes Traum, ihren geliebten Spielgefährten Kaveh in Amerika wieder zu sehen, zerschellte. Das Erziehungsministerium verfügte die Schliessung der Universitäten. Das Erziehungswesen, mitsamt allen Schulbüchern, sei dekadent, behauptete die Obrigkeit, und es verhindere, dass Kinder auf dem rechten Pfad des Islams blieben. So zerschellte auch ihr Herzenswunsch, eine gebildete und freie Frau zu werden. Der Schador musste ausser Haus getragen werden. Fortschrittlich gesinnte Frauen gaben eine Haarsträhne durch den Schleier preis; die anderen gingen total vermummt. Männer sollten Bärte wachsen lassen, wurde angeraten, denn die Religion ist mehr oder weniger gegen die Rasur der Haare. „Wenn dich jemand fragt, was du tagsüber tust, sage, dass du betest“, ermahnte ihre Mutter. „Ich bete täglich 5 Mal“, protzte einer ihrer Spielgefährten. „Ich bete 10 Mal, manchmal sogar 12 Mal im Tag“, sagte Marjane. Wie leicht man lügen lernt …
 
Die F-14-Flugzeuge
Marjanes weise Grossmutter hatte den Überfall der irakischen Truppen ‒ die 2. Arabische Invasion in Iran innert 1400 Jahren – richtig erahnt. „Die Fundamentalisten versuchten die Shi’ten (Angehörige des Shia-Islams) gegen Saddam aufzuwiegeln“, sagte sie. „Genau auf diese Gelegenheit hatte Saddam gewartet.“ Seine Armee schlug hart und brutal zu und begann, den Iran zu bombardieren. Marjane wurde darob heillos zornig und wollte ebenfalls für ihre Heimat kämpfen. Nachdem die irakischen Migs Teheran zu bombardieren begonnen hatten, sagte Marjane kurz und bündig: „Wir müssen Bagdad ebenfalls bombardieren.“ Und so geschah es. Die Verluste auf der iranischen Seite waren hoch. Nur die Hälfte der iranischen F-14 Flugzeuge entkam. Der Vater von Marjanes Schulfreundin Pardisse kam ums Leben. „Ich wünschte, er lebte und wäre im Gefängnis, statt als Held gefallen zu sein“, sagte Pardisse. Das gab Marjane zu denken.
 
Die Juwelen
Wo Krieg ist, herrscht Not. Die Gestelle in den Läden waren leer. Um jeden Sack Reis wurde gestritten. Die Tankstellen waren trocken, nachdem Irak die Raffinerie in Abidjan zerstört hatte. Leute tauschten Juwelen gegen Lebensmittel auf dem schwarzen Markt. „Mali und ihre Familie verbrachten eine Woche bei uns. Solange brauchten sie, um ihre Juwelen loszuwerden. Eines Tages im Supermarkt entdeckten sie eine Büchse mit Bohnen, womit sie ein Chili fürs Abendessen kochen konnten – trotz der ‚Flatulenz‘“. „Was ist ,Flatulenz‘? wollte Madis kleiner Sohn wissen. „Nun, das sind Fürze.“ Alle lachten laut, mitten in der Not. Das ist ein Grundzug des persischen Gemüts, der immer wieder in Marjanes Bilderbuch auflebt und den ich bisher nicht ausreichend gewürdigt habe.
 
„Die Flüchtlinge haben uns alles weggefressen, und wir haben nichts mehr“, klagte Madi. Marjane schämte sich und hatte grosses Mitleid für Madi und ihre Kinder. Das ist ein weiterer Grundzug des persischen Gemüts: das Mitgefühl für Mitmenschen. Auch glaube ich, dass Marjanes kindlich-naive Spontaneität ebenfalls ein Teil des Volksguts ist. Aber ihre Gabe, ungeschminkt ihre Meinung zu sagen und zu vertreten, ist etwas, woran es leider überall mangelt. Dazu braucht es Zivilcourage. Die Konformisten haben es scheinbar leichter im Leben. Sie lehnen das Heldentum ab, aber fallen dennoch.
 
Der Schlüssel
Der Irak war viel besser für den Krieg gerüstet als Iran. Aber Iran hatte einen Vorteil: ein unerschöpfliches Heer von blutjungen Soldaten. Die Totengalerie der Gefallenen, als Märtyrer gepriesen, füllte täglich Zeitungsseiten.
Mom wollte sich von Marjane frisieren lassen. „Hast du gelesen, wie viele heute gefallen sind?“ fragte sie Mom. Betrübt antwortete er: „Wie kann ich anders – die Strassen sind voller ,Nuptial Chambers’“ (Brautgemächer für die blutjungen Soldaten eingerichtet, welche die körperliche Liebe nicht erfahren haben). So können sie selbst als Tote noch an diesem Erlebnis teilhaben …
 
„Mom, was bedeuten alle diese Toten für dich?“ Mom antwortete: „Natürlich bedeuten sie viel für mich, da wir noch leben.“ Und er fügte hinzu: „Unser Land hat viele Kriege erlitten, die viele Märtyrer hinterlassen haben. Mein Vater sagte: ,Wenn die grosse Welle kommt, ducke deinen Kopf, um zu überleben.’“ Das empfand Marjane als sehr persisch: die Philosophie der Resignation.
 
Zusammen mit ihrer Mutter beschloss Marjane, fortan nur noch ans Leben zu denken. „Aber das war nicht immer einfach…", gestand Marjane. „2 Mal täglich mussten wir in der Schule der im Krieg Gefallenen gedenken, von Trauermusik begleitet“ (wiederum im Seitenformat gezeichnet, sind die Trauermienen der Mädchengesichter festgehalten).
 
Die Rektorin der Mädchenschule sprach ihre Zöglinge über den Lautsprecher an: „Willkommen, Mädchen des Irans. Der Krieg hat die Blüte unserer Nation hinweggerafft.“ „Wir mussten dann auf Befehl mit der rechten Hand auf unser Herz hämmern, um damit unsere Trauer zu bekunden“, erinnerte sich Marjane. „Das war weiter nicht so schlimm, denn wir hatten uns an dieses Ritual gewöhnt. Nach einer Weile nimmt es niemand mehr ernst.“ Auch Marjane hielt beim Spass mit und schrie: „Ermorde mich!“ Im Spiel wollten sie alle zu Märtyrerinnen werden. „Was tust du hier und strampelst auf dem Boden?“ herrschte die Rektorin Marjane an. „Ich leide; wie Sie sehen, werde ich gefoltert“, antwortete sie. „Kein Anlass war zu gering, um nicht Spass zu haben, etwa wenn wir Wintermützen für die Soldaten stricken mussten oder das Klassenzimmer zur Jahresfeier der Revolution schmücken mussten.“ Der Zorn der Rektorin steigerte sich. Sie berief die Eltern zur Schule und erteilte ihnen eine Levite: „Eure Kinder zeigen keinen Respekt, es mangelt ihnen an Selbstkontrolle.“ „Das kommt wohl davon“, dachte Marjane, „weil wir zuvor eine säkulare Schule besucht hatten.“
 
Eine Mutter zeigte einer anderen einen vergoldeten Schlüssel aus Plastik. „Sie gaben diesen Schlüssel meinem Sohn und sagten ihm: Wenn du das Glück hast, als Märtyrer  zu sterben, eröffnet dir dieser Schlüssel das Paradies.“ Die Mutter klagte: „5 Kinder habe ich mit meinen Tränen aufgezogen … wozu? Mir wurde gesagt, dass es im Paradies viel Nahrung für meinen Sohn gebe, auch Frauen und Häuser aus Gold und Edelsteinen. Und er war erst 14 Jahre alt, als er zum Märtyrer wurde.“ Knaben aus armen Verhältnissen wurden zum Kanonenfutter. Ihnen wurde ein besseres Leben im Paradies versprochen. In Trance zogen sie in den Krieg und starben massenweise.
 
Der Wein
Als Bomben platzten und Raketen in Teheran und anderen Städten landeten, suchten die Leute ihre Keller auf. Untertanen des Regimes verleumdeten Gegner des Regims. Tindooshs Vater wurde beschuldigt, dass er im Keller Partys gab. Es kam zur Hausdurchsuchung. Die Patrouille entdeckte Video-Kassetten, Spielkarten und viel andere Dinge, die verboten waren. Dieser Vater wurde mit 75 Peitschenhieben bestraft. „Jetzt verstehst du, warum ich schwarze Vorhänge aufhänge“,sagte Marjanes Mutter, denn sie gaben jeweils am Donnerstag eine Party und spielten am Montag Karten. „Man muss vorsichtig sein.“
Auf einer Autofahrt wurde die Familie von der Polizei angehalten. „Hast du getrunken?“ fragten sie Marjanes Vater. Die stets geistesgegenwärtige Grossmutter verteidigte sie: „Wenn ich nicht etwas Sirup trinke, wird mir elend, genau so, wie meine selige Mutter, leide auch ich an Diabetes.“ Die Grossmutter, Mutter und Tochter wurden freigelassen und hasteten ins Haus und schütteten den Wein in die Toilette. Der Vater erschien kurz später. „Die Polizisten meinten es gar nicht ernst … sie wollten bloss etwas Geld kriegen. Aber wohin ist der Wein verschwunden, gerade jetzt, wie ich etwas Stärkung brauche?“ (Während meiner Aufenthalte in Persien genossen wir alle abends auf der Veranda ein oder mehr Gläser Wein mit der Etikette „1001 Nacht“.)
 
Zum Abschluss
Marjane zündete die 1. Zigarette ihres Lebens an, die sie vor 2 Wochen von einem Onkel geklaut hatte und kam paffend zum Schluss: „Mit dem Krieg merzten Fundamentalisten die Opposition aus.“ Sie musste gewaltig husten. „Mit dieser 1. Zigarette verlor ich meine Kindheit. Jetzt bin ich erwachsen geworden.“ Die Vorbereitungen für Marjanes Abflug nach Wien begannen.
 
Nach allem Jammer und Elend glaube und hoffe auch ich, dass Iran wieder den Frieden ohne Unterdrückung finden wird und das alte Persische Reich in Ruhe gelassen wird. Junge Leute wachsen heran, und damit blüht Hoffnung erneut auf.
ENDE
 
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