Textatelier
BLOG vom: 08.07.2008

National Health Service GB: Wie ich „Mbli“ knapp entkam

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Das britische „National Health Service (NHS)“ ist eben 60 Jahre alt geworden. Einst galt das NHS als Vorbild. Der pflegebedürftige Bürger wurde kostenlos behandelt. Um 1963, als ich erstmals in London verweilte, wurden meine Zähne von einer NHS-Ärztin gut plombiert, meine Mandeln in einem NHS-Spital geschnitten. Leide ich an Erinnerungslücken?
 
Nach der Mandel-Operation schlief ich sehr lange. Ein Tobsüchtiger im grossen Krankensaal neben meinem Bett riss mich aus dem heilsamen Schlaf. Anderntags setzte ich mich auf eine Bank im Spitalgarten. Eine nette junge Krankenschwester gesellte sich zu mir. Gerne hätte ich mit ihr geplaudert. „Haben Sie denn keinen schmerzlindernden Kaugummi erhalten?“ fragte sie mich erstaunt. Im Nu brachte sie mir dieses Schmerzmittel – und bald konnte ich nicht nur mit ihr plaudern, sondern sogar flirten …
*
Heute herrscht ein akuter Bettenmangel. Oft kommt es vor, dass Patienten im Korridor untergebracht werden, bis ein Bett frei wird. Operationen werden verschoben. Teure Medikamente werden nicht nur betagten Leuten vorenthalten. Die „postcode lottery“ (Postleitzahl-Lotterie) bestimmt, laut Presseberichten, wer mit den besten Medikamenten versorgt wird. An Krebs erkrankte Leute, die in South Kensington (SW 3) und in anderen „guten Quartieren“ wohnen, werden bevorzugt behandelt. Der Wohlfahrtsstaat hat abgedankt; die Krankenkassenbeiträge sind heute nicht viel mehr als eine Steuerfinte.
 
Die Spital-Hygiene lässt in England viel zu wünschen übrig. Der „Superbug Clostridium difficile“ grassiert in schlecht unterhaltenen Spitälern. Im Jahr 2006 starben 6500 Patienten an Infektionen, die sie in Spitälern aufgelesen hatten. Das kann der Zweck des Spitalaufenthalts gewiss nicht sein, an einer im Spital aufgelesenen Infektion zu sterben. Immerhin wurden inzwischen viele der alten und verlotterten Spitäler aus der viktorianischen Epoche ersetzt. Viele von ihnen grenzten an einen Friedhof gleich nebenan. Der Weg vom Spital zur Endstation war kurz.
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Am vorletzten Sonntagmorgen erwachte ich jäh mit heftigen Schmerzen. Mir schien, ein Wespenwest habe sich in meiner rechten Fusssohle eingenistet. Ich krümmte mich vor Schmerzen. „Panadol“ wirkte nicht. Was konnte diese Mordsqualen verursacht haben – so einfach über Nacht, wie angeschmissen. Ich konnte den Sonntagsbraten nicht riechen, was meine Frau Lily sehr besorgte. Was nützt eine private Krankenversicherung am Sonntag? Die Arztpraxis in Wimbledon war geschlossen.
 
Auf telefonischen Umwegen wurde ich, dank Lily, schliesslich am frühen Nachmittag fündig und wurde zur nächsten „Poliklinik“ in Morden verwiesen. Wespenstiche? Diesmal ging ich wie auf zerbrochenen Glühbirnen vom Taxi zur Klinik, von meinem Schutzengel begleitet.
 
„Nur nicht die Schmerzen verbeissen“, ermahnte ich mich, um ja nicht meine 2 Zahnkronen zu zermalmen. Ab einem gewissen Alter hat man immerhin so viel Erfahrung gewonnen und weiss, dass Schmerzen im Fuss besser sind als im Fuss und im Kiefer zugleich, ganz abgesehen von einer saftigen Zahnarztrechnung, die im finanziellen Bereich ganz andere Krämpfe auslösen könnte.
 
Diese „Poliklinik“ ohne medizinische Geräte war ein Überbleibsel aus den 50er-Jahren – mit abgeschlurftem Linoleumboden, der Kaffeesatz glich. Die Wände waren mit Ocker-Ölfarbe, da und dort abbröckelnd, angestrichen. Die Stühle im engen Warteraum stammten wohl aus einem Oxfam-Laden. Dorthin verwies uns die arg gelangweilte Empfangsdame mit einer müden Handgeste. 6 Leute sassen dort mit trüb-resignierter Miene. Ich machte mich auf eine lange Wartefrist gefasst. Mehrmals wurde die Türe zum Arzt geöffnet und wieder geschlossen. Ein langes Palaver hielt an. Die Dame vom Empfang hatte der Ärztin eine Tasse Kaffee gebracht. Kaffeeklatsch gesellte sich zum Kaffeesatz auf dem Linoleum.
 
Endlich kam ich an die Reihe. Eine wuchtige Dame unbestimmbaren Alters, eher schmuddelig bekleidet, sass hinter einem Pult. Sie stellte Fragen, aber mehrmals musste ich meine Antworten wiederholen, da sie vom tückischen PC überfordert war. Ich meinerseits verstand kaum, was sie sagte. Ihr spanischer Akzent war mit so vielen Zutaten durchsetzt, wie sie in der Paella vorkommen.
 
„Open up front“, gebot sie. Zum Glück suchte sie nur nach dem Puls, ganz oben zwischen meinen Beinen – und fand ihn nicht … Auch pulsierte herzlich wenig am rechten Fuss. Das gab ihr zu denken. „Mbli“, konstatierte sie. Ich war konsterniert. „Was ist das?“ fragte ich besorgt. Das kann doch keine Tropenkrankheit sein. „Mbli“ wiederholte sie, „das ist gefährlich und kann ins Herz steigen.“ Das Herz sank mir in die noch immer offene Hose, als mir aufging, dass sie damit Embolie meinte.
 
Ich wurde von ihr zum „Notfall“ erklärt. Sie telefonierte herum. Kein Spital wollte mich haben. „So ist es heute im NHS, besonders an einem Sonntag“, meinte sie schulterzuckend. Zuletzt erwischte sie Herrn Ali im St. Thomas Spital in Tooting … Ich war in Lebensgefahr und litt Todesqualen. „Er ist der diensttuende Chirurg für Zirkulationsstörungen“, erklärte sie ehrfürchtig übers abgedeckte Telefon hinweg. (Ein Chirurg wird in England schlicht „Herr „genannt, was seinen Status haushoch über den Doktortitel erhebt.) „Sprechen Sie mit ihm“, reichte sie mir das Telefon, „er versteht mich nicht.“ Frau Doktor meint, ich habe eine „mbli“, „Embolie“ verbesserte ich mich rasch, und fügte hinzu, „ und sie findet meinem Puls nicht mehr.“ Er forderte mich auf, sofort die Notfallstation aufzusuchen.
 
Dort eingetroffen, wurde ich sofort in einen kleinen Warteraum bugsiert. Eine Arztgehilfin aus Indonesien füllte ein langes Formular aus. Herr Ali, ein netter, junger Inder, erschien und bat mich, ihm in die Untersuchungshalle zu folgen. Er behandelte mich sehr zuvorkommend auf der Liege und rückte, nachdem ich meine Hose und Socken ausgezogen hatte, sogar das Kopfkissen zurecht. Immerhin entdeckte er einen Puls, wiewohl schwach. „Sind Sie Raucher?“ fragte er. Ich nickte und gestand ihm: „Sogar ein starker.“ „Die Wahl liegt an Ihnen“, meinte er. „Rauchen verkürzt nicht nur das Leben ; „so it is entierely up to you“, sagte er lakonisch, „ein Bein könnte Ihnen amputiert werden, vom Lungenkrebs nicht zu sprechen.“ Herr Ali ordnete u. a. eine Blutuntersuchung und Röntgenaufnahmen an, ehe er zu einer Operation abgerufen wurde. Ich stellte mir zutiefst besorgt vor, wie er im Operationssaal ein Bein amputierte. Sollte ich Reissaus nehmen?
 
Ein missmutiger Schwarzer erschien nach langer Wartefrist und entnahm mir die Blutproben. Ich nötigte ihm ein schwaches Lächeln ab, als ich ihm, meinen entblössten Arm reichend, sagte: „Ich fühle mich wie ein gerupftes Huhn.“ Eine gute Stunde später mussten meine Lungen zweimal vom Röntgenapparat geknipst werden, weil die erste Aufnahme nicht in den „Bilderrahmen“ passen wollte.
 
Inzwischen war es 6 Uhr abends geworden, und die Schicht hatte gewechselt. Gegen 7 Uhr erschien Herr Ali mit seinem Vorgesetzten – offensichtlich ein „Doppel-Herr“. Nochmals musste ich aus den Hosen und Socken steigen und wurde wieder befühlt. Diesmal wurde ein spürbar pochender Puls entdeckt. Kein Wunder, denn mein Herz trommelte wie das Herz eines verängstigten Kaninchens. Die beiden Herren enthielten sich der Diagnose. „Wir kommen wieder, sobald die Untersuchungsresultate vorliegen“, sagte der Oberchirurg und gähnte mir schlicht und einfach ins Gesicht, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, wohl von Amputationen stark ermüdet.
 
Ich erkundigte mich wiederholt bei der Administrationsassistentin, wie lange ich noch auf den Befund warten müsse. Sie suchte nach meinem Dossier. Ich fand es aufgeschlagen auf dem Tisch nebenan. Herr Ali hatte mit zeichnerischem Geschick mein unteres Gerippe skizziert und mit allerlei mir unverständlichen Anmerkungen versehen. Ganz oben, neben meinem Namen, bemerkte ich den handschriftlichen Zusatz „alert“, also wachsam. Stellt der Arzt Privatfragen, etwa nach dem Beruf, beruht dies keineswegs auf Anteilnahme, sondern zielt darauf ab, um festzustellen, wieweit der Patient zurechnungsfähig ist. Diese Art der Fragestellung habe ich verschiedentlich während meiner Wartefrist aufgeschnappt.
 
Aber gegen 8 Uhr schnappte meine Geduld über. Herr Ali operiere, sagte die Hilfsschwester, und ich müsse mich gedulden. Weder meine Frau noch die Schwester konnten mich aufhalten, als ich den „Notausgang“ fand und beim Empfang ein Taxi bestellte. Jetzt hatte die Notfallstation Hochbetrieb. Wie auf dem Fliessband fuhren Ambulanzen vor. Ich wartete beim Ausgang und paffte fürwahr nicht nur 1, sondern 2 Zigaretten, um meine Nerven zu beruhigen. Eine Horde von schwarzen Halbwüchsigen stürmte an uns vorbei in die Station. Lily und ich drückten uns verängstigt eng an die Wand. Es war mir nicht entgangen, dass 2 bewaffnete Polizisten innerhalb der Station ihre Runden abklopften. Sie hielten jetzt die Horde auf, eben wie das Taxi vorfuhr.
 
Schmerzen hin oder her, ich musste am Montag mein Wochenpensum unbedingt beginnen – einen Fabrikbesuch in St. Leonards-on-Sea an der Küste von East Sussex bewältigen. Die lange Bahnfahrt zermarterte mich, und ich schnitt Schmerzensgrimassen gegen das Zugsfenster gewendet. Man darf sich in der Öffentlichkeit Schmerzen nicht ansehen lassen. Mühsam machte ich meinen Rundgang durch die Fabrikanlage eines Lebensmittelherstellers. Im Sitzungszimmer milderten sich die Schmerzen vorübergehend, wie ich mich aufs Gespräch mit dem Inhaber konzentrieren musste. 2 Tage später war ich mit einer ähnlichen Aufgabe in Manchester beschäftigt. Die Schmerzen überfielen mich wie Ebbe und Flut, bald jäh, bald abklingend.
 
Während dieser Woche erhielt meine Frau viele Anrufe von der „spanischen Ärztin“, die grosses Interesse an meinem Fall bekundete. Dabei erfuhr meine Frau einen ebenfalls grossen Teil von der Lebensgeschichte der Ärztin. Sie stammt aus Sri Lanka, ist spanischer Herkunft und hat ihre Praxis in Wandsworth. Sie sprang nur aushilfsweise, wegen Personalmangels, in der Klinik in Morden ein. Sie wollte wissen, ob ihre Diagnose gestimmt habe. Wie immer ist meine Frau sehr geduldig. Genau diese Eigenschaft fehlt mir. Erneut erhielt sie einen Anruf, diesmal in meinem Beisein, der andauerte, wiewohl ich mit einer Gebärde andeutete, dass es an der Zeit sei, dieses Gespräch abzuklemmen.
 
Am Sonntag wurde ich ins Privatspital eingewiesen und in die lange, enge, weisse Untersuchungsröhre (Computer-Tomograph) gestopft. Wäre ich eine Wildkatze gewesen, hätte ich mich dagegen kratzend und fauchend gewehrt. Eine mildtätige Schwester reichte mir einen Kopfhörer und fragte mich nach meinen musikalischen Wünschen. „Bach“, sagte ich mit einem Wort. Einige Takte Bach – und schon wurde die Musik von den elektronischen Innereien der Maschine übertönt. Immerhin war diese Prozedur nach einer halben Stunde vorbei. Ich konnte mich sogar zu Fuss, zwar humpelnd, vom „Parkside-Hospital“ in meine Klause in der nahen Parkside Gardens verkriechen.
 
Ohne meine Gebresten weiter breitzutreten, empfing mich ein Fachspezialist. Er hiess Herr Thomas. Ich schätzte ihn auf Anhieb, zumal er mich sofort bezüglich „mbli“ beruhigte. Es handelte sich in meinem Fall um eingeklemmte Nerven irgendwo in meinem krummen Rückgrat. Die Schmerzen hatten in der Zwischenzeit beachtlich nachgelassen. Er verschrieb mir ein wirksames Schmerzmittel und riet mir, meinen Rücken nicht länger mit strapaziösen Gartenarbeiten und mit der Giesskanne beschwert zu belasten. So soll Parkside Gardens ein Weilchen ohne mich auskommen.
 
Das ist mir Recht und bekömmlich, da ich viel lieber Blogs schreibe anstatt zu jäten. Ausserdem hat er mir empfohlen, viel zu spazieren, was bekanntlich die Blutzirkulation fördert. Das werde ich beherzigen.
 
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