Textatelier
BLOG vom: 04.11.2008

Neue Bücher, die Staunen, Schauen und Nachdenken lehren

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Dieser Tage sind 2 taufrische Bücher in meine Bibliothek eingezogen, die beide ähnlich aufgemacht sind (A4-Querformat), farbige Kapitaleinbände mit Fadenheftung haben, je rund 160 Seiten umfassen und jedes auf seine Weise Bildbotschaften ganz unterschiedlicher Art vermittelt und zum Denken anregt.
 
Raussers Foto-Gegensätze
Das eine stammt vom Fotografen Fernand („Sepp“) Rausser: „Meine Kamera lacht, weint und staunt.“ Und selbstredend staunt auch der Betrachter: In diesem Werk sind nicht einfach Rosinen aus Raussers riesigem Fotoarchiv versammelt, sondern es sind Gegenüberstellungen von Bildern aus ganz unterschiedlichen Gegenden und Bereichen, die aber einen inneren Bezug haben. Da stolziert beispielsweise ein Hahn aus dem bernischen Zäziwil in der genau gleichen Pose voran wie ein mit Orden reich dekorierter Offizier aus Abidjan in der Lagunen-Region der Elfenbeinküste. Eine Interpretation könnte etwa sein, dass menschliche Verhaltensmuster ihre Parallelen im Tierreich haben, allerdings mit dem Unterschied, dass Tiere ohne künstlichen Dekorationsklimbim auskommen.
 
Besonders gelungen sind auch diese beiden Aufnahmen: Zwischen Motorrädern operiert ein Ghanese im linken Nasenloch eines Kunden, und im Bild daneben liegt ein junges Paar in den Badekleidern am Strand an der französischen Riviera. Die hübsche Dame drückt ihrem Freund genüsslich eine entzündete Hautunreinheit am Hals aus – vielleicht Hinweise auf die Bedeutung der Alltagschirurgie und kosmetische Eingriffe. Bei anderen Bild-Balancen stehen Landschaftsmuster neben Formenspielen, die diesen verblüffend ähnlich sehen.
 
So erweist sich Rausser einmal mehr als exzellenter Fotograf, was an sich bereits genügen würde. Doch er will mehr: Er vergleicht Gewachsenes und Geschaffenes und legt dadurch die Grundlage für neue Fragen und Aussagen: War nicht alles ohnehin schon da? Wir müssen uns mächtig anstrengen, um einen billigen Abklatsch dessen zu erreichen, was von Natur aus perfekter vorhanden ist. Überdies wird unser Hang zu Übertreibungen entlarvt: Ein schlichtes Marien-Wandbild wirkt stärker als die in einen barocken von Gold und Verherrlichungsprunk überladenen Altar versenkte Gottesmutter, die den Eindruck erweckt, das sei die Gemahlin eines der reichsten Männer der Welt, die hier ihr Vermögen zur Schau stellen wolle.
 
Fred Zaugg hat dazu einen einfühlsamen Text geschrieben, der den Fotografen Rausser als abbildenden Künstler beschreibt, der sich nicht in Selbstverwirklichung übt, sondern das hinaustragen will, was er gesehen und erlebt hat und die Zwiesprache mit dem Betrachter sucht.
 
Schneiders Landschaftsbetrachtungsweise
Geht es im oben beschriebenen Werk um fotografisch festgehaltene Einsichten, Ansichten und Aussichten, so sind es im Buch „Die Landschaften des Bezirks Rheinfelden“ zeichnerische; sie wurden von Max Schneider (92) geschaffen. Der Aarauer Geograf Gerhard Ammann, der dazu die treffenden erklärenden Worte geschrieben hat, erzählte an der Vernissage eine lustige Geschichte, die sich einst neben Bildern von Max Schneider, dem ehemaligen Architekten mit besonderer Zuwendung zu denkmalpflegerischen Einsätzen und Zeichner, abgespielt haben soll. Der Knabe fragte angesichts der Bilder seinen Vater: „Warum macht der solche Bilder?“ Der Vater: „Der kann nicht fotografieren.“
 
Doch kann Max Schneider mit Zeichenstiften und Farben umgehen (das kann Sepp Rausser übrigens auch, der sich auch als Cartoonist einen Namen gemacht hat). Schneider beschäftigt sich gern mit Landschaften und Bauten, die er aber nicht fotografisch abbildet, sondern er erlaubt sich, das Attraktive und Schöne herauszufiltern. Seine Panoramen leben von dem, was ihn wesentlich dünkt, wobei bei dieser Vereinfachung die Konturen umso deutlicher hervortreten. Deshalb sind seine Zeichnungen keine Zeitdokumente, die einen bestimmten Zustand der Landschaft festhalten. Es sind vielmehr persönliche Ansichten, in bunten oder unbunten Farben gehalten, welche die Stimmungslage des Malers ausdrücken.
 
Manchmal wird einfach ein Busch, den es in der Landschaft nicht gibt, hingestellt, um einen fernen architektonischen Auswuchs zu verdecken. Ohne Max Schneider zu den Architekten zählen zu wollen, die auf ihren Ansichtsplänen banal geratene Fassaden mit Bäumen in allen Formen und Farben belebten, erkennt man hier doch eine gewisse Assoziation zu dem bewährten Architektentrick. Allerdings greift wohl auch jeder Maler zu solchen gestalterischen, verdichtenden Massnahmen, dem Bildergebnis zuliebe. Ohne mir irgendwelche künstlerischen Ambitionen andichten zu wollen, erwische ich mich auch bei meinem Fotografieren immer wieder dabei, wie ich „störende“ Stromleitungen und Banalbauten mit grossen Asphaltflächen über den Bildrand hinaus verdränge, als ob sie nicht auch dazu gehören würden. Jedermann strebt ja Bilder an, die gern angeschaut werden. Und laut Gerhard Ammann sollte man Landschaften geniessen und gern haben, und dabei hilft manchmal schon etwas Wegschauen oder beim Zeichnen das Deckweiss.
 
Ob Maler oder Fotograf, zuerst einmal muss der richtige Standort gefunden werden. Bei Max Schneider ist das immer ein langwieriger Prozess. Vor allem schaut er gern auf die Dächer hinunter. Er braucht mehrere Anläufe, bis er den richtigen Ort ermittelt hat. Und wenn die Topografie nicht mit genügend Hügeln ausgestattet ist, so mietet er eben eine Hebebühne von einem Bauamt oder Bauunternehmen, um die nötige Höhe zu erreichen. Dann teilt er sein Zeichenblatt geometrisch auf, fügt Striche ein, von denen nie einer entfernt wird, und färbt ein. Die Zeichnungen wachsen von innen nach aussen.
 
An der Vernissage im Kellertheater des Hotels „Schützen“ in Rheinfelden vom 29.10.2008 sang der Sohn des Zeichners, Florian Schneider (Tenor) Volkslieder und auch aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ die Moritat von Mackie Messer: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ – eine aktuell wirkende Entlarvung der Bourgeoisie, die wieder intensiviert Bettlerkönige wie Brechts Peachum hervorbringt. Die glänzende Violinistin Mirjana Katinovic mit ihrer schnörkelfreien musikalischen Untermalung und der temperamentvolle Roman Baslin am elektronischen Technics-Klavier offenbarten ihre Talente auch bei keltischer Musik, etwa bei „Lord of the Dance“ und dem „Csárdás“, dem ungarischen Nationaltanz.
*
Bücher, Fotos, Zeichnungen, Musik – das sind Garantien für gelungene Winterabende. Als ich von Rheinfelden nach 22 Uhr heimfuhr, herrschte emsiges Schneetreiben, und ich musste vor allem beim Passieren der Staffelegg darauf achten, dass sich nicht auch meine Sommerpneus in Rundtänzen übten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Winter so unverhofft früh einsetzen würde. Doch brauchte ich nicht zu weinen. Das Lachen und Staunen nach Rausser-und Schneider-Vorbild blieb mir ungetrübt erhalten. Und wieder war eine Landschaft neu eingefärbt worden.
 
Bibliographien
Rausser, Fernand, und Zaugg, Fred: „Meine Kamera lacht, weint und staunt“, Wegwarte Verlag, Bolligen 2008.
Schneider, Max, Ammann, Gerhard, und Kym, Anton: „Die Landschaften des Bezirks Rheinfelden“, Verlag Herzog Medien, Rheinfelden 2008.
 
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