Textatelier
BLOG vom: 13.02.2009

London: Vergoldete Lords, Schnapsideen, Lichtblicke

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Es gibt bessere Musik als die Tonspulen von Muzak
Ich bin es überdrüssig, in Warenhäusern, öffentlichen Liften, Flughäfen und selbst in Toiletten fortwährend musikalisch berieselt zu werden. So las ich mit einer gewissen Genugtuung, dass „Muzak“, der Lieferant von „piped music“ (in Kalifornien ansässig), bankrott ist, mit einem Schuldenberg von annähernd $ 500 Millionen. Der Einzelhandel leidet stark unter der Wirtschaftsdepression, und viele Geschäfte müssen schliessen – die Musik spielt nicht mehr. Damit versiegten lukrative Einnahmequellen für Muzak.
 
Die „Finanzgenies“ kriegen weiterhin ihre Boni
Nach wochenlangem Gerangel haben sich die Hochstapler-Bänkler ihre Boni-Pfründe weitgehend gesichert. Die fetten Katzen in Banken, wie jene in der „Royal Bank of Scotland“, die eine riesige Finanzspritze von der Regierung erhalten hat, reiben sich vergnügt ihre Wänste. Die Regierung ist machtlos; das Publikum ist empört.
 
Die Sparer werden stranguliert
Die Zinsen sind in England bis knapp zur Nullgrenze abgebröckelt. Wer ein Sparheft sein eigen nennt, kriegt nichts mehr für sein Geld. Bald wird er wohl für dieses Privileg draufzahlen müssen. Besser versorge man seinen Sparbatzen unter der Matratze. Am härtesten davon betroffen sind die Pensionäre, die wachsende Zahl der Arbeitslosen und auch Leute, die Sparwillen bezeugt haben. Alle staatlichen Mätzchen wollen, dass der Konsument weiterhin auf Pump (Borg) lebt. Doch viele Konsumenten sind störrisch geworden und halten ihre Kreditkarten unter Verschluss. Recht so!
 
Der Premier verschiebt das Budget-Spektakel
Alle Jahre wieder wird das englische Haushaltsbudget bestimmt, das meistens mit Steuererhöhungen einhergeht. Der pfiffige Premier Gordon Brown hat dieses Jahr 2009 das Budget auf den 22. April verschoben. Bis dann hofft er zu wissen, ob Barack Obamas fiskalische Rettungsmassnahmen von fast $ 800 Milliarden positiv gewirkt haben. Ich bin skeptisch und glaube, dass sich damit beide, Barack Obama und Gordon Brown, in die Füsse geschossen haben. Daran wird auch das G20-Treffen am 2. April 2009 nichts ändern.
 
Der einstige Finanzchef der HBOS kommt in den Pranger
Ein ehemaliges Kadermitglied (Paul Moore) der HBOS-Bank, wiederum die „Royal Bank of Scotland, hat seinen einstigen Chef verpfiffen. Sir James Crosby – als Englands bester Mathematiker gepriesen – wurde von Gordon Brown zum stellvertretenden Vorsitzenden der „Financial Services Authority“ berufen. Unterwegs zu diesem Posten kriegte er, wie es sich gehört, den Titel „Sir“ – ein beliebter alter Zopf in England wie die Perücken der Richter. Am 11. Februar 2009 hat er „aus eigenem Antrieb“ seinen Posten aufgegeben. Ich überspringe hier das „Warum“, weil es für uns demokratische Schweizer belanglos ist. Dieser gepriesene Mathematiker hat eine Wunderformel entdeckt, die ich hier nicht vorenthalten will. „Selbst der hellste Kopf“, sagte er, „hat nur eine 55 -%-Chance, den richtigen Entschluss zu fassen. Viel besser ist es, wenn man in die falsche Richtung geht und nachher die Kurskorrektion vornimmt. Das erspart viel Zeit …“ und ich füge hinzu: auch Kopfarbeit. Was hätte wohl Albert Einstein mit dieser Formal angefangen?
 
Einer unter 10 Arbeitnehmern verliert seine Stelle
Annähernd 2 Millionen Leute sind im Königsreich bereits arbeitslos, und ihre Zahl erhöht sich tagtäglich um 2815 Rezessionsopfer (statistischer Mittelwert). Die Zahl von 3 Millionen Arbeitslosen wird angepeilt. Die Leute können u. a. ihre Hypothekschulden nicht länger abstottern.
 
Nach erfolgreichem Studienabschluss haben Studenten wohl einen Schuldenberg, doch keine Stelle gewonnen. Das ist das Los vieler Studenten, die sich allenfalls mit einem Posten hinter der Bar über Wasser halten und sich als Trostpreis hin und wieder ein Gratisbier abzapfen dürfen. Wer von ihnen Glück hat, kann wieder sein Zimmer im Elternhaus beziehen. Die Mutter wird ihn/sie verpflegen und die Wäsche besorgen.
 
Inzwischen werden pensionsreife Arbeitnehmer aufgefordert, mindestens 3 oder 4 Jahre länger zu arbeiten, um den Schwund ihrer Pension wettzumachen. (Staatsbeamte erhalten nach wie vor ihre abgesicherten „Goldpensionen“ …). Die volkswirtschaftliche Rechnung geht nicht auf.
 
Der Fussball als Ablenkungsmanöver
Gleichgültig, ob Hoch- oder Tiefkonjunktur herrscht, die den Fussball begleitenden skandalösen Zustände werden von den Nachrichten breitgeschlagen, und sie lenken jene ab, die diesem Schausport verfallen sind. Und wer hat nicht seinen Spass daran, ausser Sie und ich…?
 
Da flog der russische Grossmogul Roman Abramovich in seinem Privatjet von Moskau nach London, einzig um den Chelsea Manager Luiz Felipe Scolari fristlos zu entlassen. Nun kann dieser Mann, mitsamt seiner Familie, dank einer Abfindung von £ 7,5 Millionen ordentlich weiterleben, vielleicht sogar ein ganzes Jahr … Fussballspieler wechseln auf der Fussballbörse von einem Liga-Club zum andern zu Kopfpreisen, um die sie selbst die Finanzkapitäne heute beneiden. Übrigens flog Abramovich noch gleichentags nach Moskau zurück.
 
Die Lords lassen sich bestechen
Grundsätzlich ist das in England bestehende 2-Kammer-System eine gute Idee. Es dämmt viele Schnapsideen des Parlaments ein, ehe sie Gesetzeskraft erreichen. Viele rechtschaffene Lords – ob Erbadel oder frisch ernannte – versehen ihre Aufgabe gewissenhaft. Aber dank der Lobbyisten werden Schmiergelder bezahlt, womit „faule Eier“ im „House of Lords“ Gesetzesänderungen zu Gunsten der Lobbyisten einschmuggeln. Die „Sunday Times“ gibt darüber vertiefte Auskunft.
 
From The Sunday Times
January 25, 2009
Revealed: Labour lords change laws for cash
Insight: Jonathan Calvert, Claire Newell and Michael Gillard
LABOUR peers are prepared to accept fees of up to £120,000 a year to amend laws in the House of Lords on behalf of business clients, a Sunday Times investigation has found.
 
Viele Kabinettsminister frisieren nicht nur ihre Spesenabrechnungen, sie blähen sie auf krummen Wegen masslos auf. Selbst die Home Secretary Jacqui Smith ist keine Ausnahme: Sie belastet die öffentliche Kasse mit £ 116 000 für ihr 2. Haus und lebt bei ihrer Schwester in London, laut Bericht im Evening Standard vom 11. Februar 2009. Sie ist bei weitem kein Einzelfall. Sie alle konnten sich bisher hinter der Geheimhaltung verschleiern. Dieser Schleier wird jetzt zunehmend gelüftet – zur Erleichterung redlicher Steuerzahler.
 
Lord Hope und Lord Neuberger: BBC muss Dossier mit „anti-Israeli bias“ (Tendenz) preisgeben
Dazu kann ich nur den Kopf schütteln. Die BBC hat mustergültig berichtet, wie Israel Gaza in Schutt und Asche bombardiert hat. Das „Hohe Gericht“ (Law Lords) hat jetzt verfügt, dass die BBC einen internen Bericht preisgeben muss, und sie wird bezichtigt, anti-israelitische Tendenzen verfolgt zu haben. Jeder Kommentar erübrigt sich.
 
Wie alles im Leben kommt es auf den Standpunkt an – und auf welcher Seite man ist. Am besten lasse man sein eigenes Rechtsgefühl darüber entscheiden.
*
Damit ich nicht als Pessimist und Schwarzseher abgeschrieben werde, bin ich versucht, vor den Engländern im Allgemeinen und den vielen kulturellen Beiträgen in London im Besonderen mein Liebesgeständnis abzulegen. Dieses möge aus etlichen meiner Blogs ersichtlich sein. Und worüber gelegentlich ein ausführlicheres Schreiben werde: Wie sich viele Engländer und ich auch zum Gartenjahr rüsten.
 
In diesem Sinne ist allein schon der „Royal Botanic Gardens“ (kurz „Kew Gardens“) in Richmond ein, nein: mehrere Besuche, selbst um diese Jahreszeit, wert. In den Gewächshäusern bleiben Sie warm und trocken, und Sie erleben eine Augenweide und können sich innerlich aufs Gartenjahr 2009 vorbereiten.
 
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