Textatelier
BLOG vom: 22.05.2009

Als die Schreckmaus in London angekommen war ... (1)

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Am 1. Tag
Ich heisse Schreckmaus, seitdem mein Vater von einer Katze erwischt wurde, und lebe mit meiner Mutter und Geschwistern in einer Bäckerei in Bovington GB. Ich hüte mich vor Katzen und Mäusefallen, husche vorsichtshalber eng an den Häusermauern entlang und verstecke mich unterm Gebüsch.
 
Essenszeit ist, wenn der Bäcker und seine Frau die Gestelle mit Backwaren räumen und säubern und dabei viel Brosamen abfallen. Nachher schalten sie oben, im 1. Stockwerk, den Fernseher an. Unsere Mäusesippe wohnt dort oben, hinter der Wandverschalung, nicht weit von der Backstube. Natürlich sehen wir fern. Ich kriege jedesmal Fernweh, wenn ich Bilder von London sehe: „So eine tolle Weltstadt, viel besser als das langweilige Bovington!“
 
Mein Plan war gefasst: Ich wollte, musste nach London reisen. „Ich fahre zum Bahnhof“, sagte der Bäcker zu seiner Frau, und lud Backwaren in sein Lieferauto. Ich sprang ins Auto und erreichte den Bahnhof. Gut, dass ich lesen kann. Auf dem Bahnsteig war der nächste Zug nach London angezeigt. „Mind the gap“, warnte eine Stimme aus dem Lautsprecher, als der Zug einfuhr. Mühelos übersprang ich die Lücke zwischen Wagentüre und Bahnsteig und verkroch mich unter der Sitzbank, denn Menschenschuhe, die Menschen allgemein, sind für uns Mäuse gefährlich. Sieht uns eine Frau, schreit sie Zeter und Mordio, als seien wir ihr Todfeind.
 
Ich weiss nicht mehr, in welchem Londoner Bahnhof ich ankam. „Endstation, alle aussteigen!“ Nachdem alles, was Schuhwerk trug, ausgestiegen war, entsprang ich dem Zug. Ich hatte Glück: Ein Angestellter zog eine Karre mit Abfällen beladen, worin ich Unterschlupf fand. Was die Menschen nicht alles wegwerfen, besonders in London … Ich tat mich an einem halben McDonald’s gütlich, nein, nicht am Brot, von dem ich die Nase voll hatte, sondern an den Käseresten. Den Durst löschte ich aus einer halbgefüllten Mineralwasserflasche, die ich umgekippt hatte. So war ich bestens für meine Entdeckung von London gerüstet.
 
Lange musste ich bei einem Dohlendeckel (Gully) warten, ehe ich mutig genug war, die Strasse zu überqueren und unterm Schutz der Hausmauern weiterhuschen konnte. Sollte ich die National Gallerie besuchen, die St. Pauls Kathedrale? Nein, verwarf ich die Idee mit der Kathedrale, denn in Kirchen hungern die Mäuse, ebenso schlug ich die National Gallerie aus, weil es dort keine Porträts von berühmten Mäusen gibt.
 
„Wohin soll es denn?“ werweisste ich, zunehmend ermüdet. Bei der Bushaltestelle kam eben ein Bus Richtung Soho. „Das ist mein Ziel!“ Hopp! Schon war ich im Bus. Mein Herzenswunsch, Piccadilly zu sehen, ging in Erfüllung. Lange verweilte ich beim Eros, worunter sich viele Liebespärchen niedergelassen hatten. Schliesslich war es ein sonniger Nachmittag im Wonnemonat Mai. Ich schaute dem Treiben rings um mich zu und spitzte die Ohren. Ich verstand kein Wort. Als englische Maus hatte ich keine Fremdsprache gelernt. In einem Abfallkorb fand ich sichere Unterkunft für ein Nickerchen.
 
Wie lange hatte ich geschlafen? Draussen dämmerte es, und die Leuchtreklamen funkelten und gaukelten in allen Farben wie Schmetterlinge: Es war eine Augenweide. Das Angebot von Nüssen in meinem Korb war einzigartig: Erdnüsse, Popcorn, sogar gebrannte Mandeln. Ich wurde richtig übermütig, nachdem ich aus einer Dose Bier getrunken hatte.
 
Nur eines fehlte mir, ging mir durch den Sinn, eine Mäusin … Ich dachte an meine Freundin in Bovington. Aber ich bin jetzt in London und nicht in Bovington. Gewiss gibt es auch hier eine Mausmutter, die eine schöne Tochter hat. So beschloss ich, einen Streifzug durchs Soho zu machen. Herrliche Düfte aus chinesischen und indischen Lokalen wiesen mir den Weg mitten ins Soho. Ich war am richtigen Ort – ein wahres Mäuseparadies. Behäbig huschten sie hin und her mit voll gestopften Wämschen. „Aber hüte dich vor unbekannter Kost“, hatte mich meine Mutter immer wieder ermahnt. Ihren Rat wollte ich nicht in den Wind schlagen. Ich rempelte eine Maus, um Rat suchend, an. „Wenn du nicht Hindi sprichst, will ich nichts von dir wissen“, sagte sie und drehte mir grob den Rücken zu. Ich musste eine Abfuhr um die andere einstecken, bald mit Spott bedacht, wie „Mit Landmäusen geben wir uns nicht ab. Wir sind Grossstädter, in London geboren und aufgewachsen, schon seit Generationen“. Ich wurde ganz traurig, so allein unter meinesgleichen.
 
Was piepste da, hinter einem Papierknäuel? Eine zierliche Mäusin, fürwahr. „Du bist mutig, so allein nach London zu kommen“, sprach sie mich an. Wenn sie gewusst hätte, dass ich Schreckmaus hiess … Zum Glück fragte sie nicht nach meinem Namen. „Also denn, hier muss man sehr wählerisch sein, sonst verbrennt man sich leicht die Zunge oder kriegt Magenweh“, klärte sie mich auf. „Du darfst niemals ,Vindaloo’ essen, viel zu scharf. ,Basmati'-Reis ist viel bekömmlicher und schmeckt ausgezeichnet“, unterrichtete sie mich.
 
Inzwischen war es spät geworden. „Wir müssen verschwinden, sonst kommen wir unter die Räder der motorisierten Strassenfeger.“ ‒ „Das ist nobel von dir, mich zu dir einzuladen“, konnte ich nur noch dankbar sagen und schlüpfte ihr durchs Mäuseloch nach. „Wen hast du da aufgelesen?“ fragte ihre Sippe. „Das geht euch nichts an!“ schliesslich bin ich grossjährig, sagte meine Mäusin. „Du hast es hier gut warm“, sagte ich gähnend. „Wir sind direkt unter der Küche – zum Morgenessen ist es nicht weit." Wir wünschten einander gute Nacht.
 
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