Textatelier
BLOG vom: 19.07.2009

Hartmann Pfosi: Die letzte Reise – auch sie nur ein Traum?

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Krematorien sind nicht eben Orte, die eine grosse Anziehungskraft auf mich ausüben, obschon mir durchaus bewusst ist, dass auch ich früher oder später nicht um den Einäscherungsprozess in solch einer Anlage herumkommen werde. Wenn jemand aus der Verwandtschaft oder Bekanntschaft stirbt, ergibt sich jeweils Gelegenheit, etwas flüchtige Krematoriumserfahrung zu sammeln, ob man will oder nicht.
 
Als Zuschauer beziehungsweise Trauergemeinde-Mitglied kam ich am 14.07.2009 ins Gebiet Chur-Sand, das schon vor dem 1921/22 erfolgten Bau des Krematoriums „Totengut“ genannt wurde; mir kam dabei eine Beziehung „Patientengut“ in den Sinn, einem Ausdruck aus dem Ärztejargon. Aus dem Patientengut wird am Ende immer Totengut.
 
Das Totengut als Ortsbezeichnung befindet sich in einer dicht bewaldeten Schlucht ausserhalb des Zentrums von Chur GR, das heisst etwa 500 m nach der Abzweigung der St. Luzistrasse, die bald einmal zur Arosastrasse wird und über Maladers und Langwies eben nach Arosa führt. Das Gebiet ist mir, wie auch der nördlich anschliessende Bündner Teil des Rätikons, einigermassen vertraut, weil ich dort als Gebirgsgrenadier viele militärische Wiederholungskurse absolviert und bei einer solchen Gelegenheit auch meine Frau Eva gefunden habe, zumal der Mensch nicht nur von Stosstrupps und derartigen nahkämpferischen Kapriolen allein lebt.
 
Die Plessur hat zwischen Pizokel und Mittenberg bzw. Montalin einen tiefen Einschnitt gegraben. Das schattige Gebiet in der Tiefe der Plessur-Alpen ist wenig überbaut und wie gemacht für die Totenruhe. In den schattig-dunklen Zonen neben steilen, bewaldeten Abhängen liegt eine beklemmende Stummheit.
 
Die Totengut-Brücke führt zum Krematorium, das über eine kubische Portalandeutung aus wuchtigen viereckigen Säulen und einem gleichartigen, erdrückenden Doppeldachträger zu erreichen ist. Auf den letzten Metern begleitet den Besucher eine düstere, rasierte Eibenhecke (Totenbaum). Unterhalb davon ist der Friedhof angelegt, wo Blumen in der nach streng geometrischen Gesichtspunkten erstellten Anlage vor einer Blutbuche (Fagus sylvatica purpurea) und sattgrünen Bäumen für wohltuende farbliche Effekte sorgen. Zwischen den Gräberreihen sind ungeschnittene, immergrüne Buchsbaumhecken, die das ewige Leben symbolisieren. „Uuf – dür und iin“, sagen die tapferen Malixer („Auf, hinüber und hinein“) bei solchen Gelegenheiten.
 
Das Krematorium, vom Feuerbestattungsverein Chur betrieben, ist einer einfachen Kirchenform mit Satteldach nachempfunden, wobei der Turm durch einen Kamin ersetzt ist, aus dem bei unserer Ankunft gerade ein blaues Räuchlein in den Himmel stieg; der halbautomatische, elektrisch betriebene Speicherofen vom Typ RK I von der ehemaligen BBC, der 1980 neu erstellt wurde, war offensichtlich gerade im Einsatz.
 
Besonders wuchtig ist der vorspringende, abgeschrägte Eingangsbereich zur Abdankungshalle mit den angedeuteten Fenstern und dem geschwungenen Kupferdach gestaltet. Am Bau gibt es griechische Elemente wie das Dreieck (Pediment) über dem Tor, das unverkennbar der Tempelarchitektur nachempfunden ist. Unter dem Pediment ist in Gold „DEM LICHT ENTGEGEN“ in den grünlichen Andeerer Granit (Orthogneis) eingraviert, obschon es in der Abdankungshalle eher düster ist, abgesehen vom Gemälde in hellen Pastellfarben, das einen Sämann und den Auferstehenden zeigt. Zwischen blauen Standsäulen mit eingravierten Rauten-Mustern und Rhombendodekaedern war der Sarg aus hellem Holz, in dem die leiblichen Überreste von meinem Schwager Hartmann Pfosi ruhten, zwischen Blumenschmuck eingebettet.
 
Lebensdaten
Auf der Empore spielte Joe Tscharner mit seiner diatonischen Hohner-Handharmonika zur Einstimmung die aus dem rätoromanisch-sprachigen Teil des Bündnerlands stammende Melodie „Atun“ (Herbst). Mit leiser Stimme gab Peter Reichen, ein befreundeter Bekannter von Hartmann, alsdann Einblick in das im 81. Altersjahr erloschene Leben. Am 26.12.1928 geboren, war Hartmann Pfosi ein „Weihnachtskind“, und er blieb es in seiner Fantasie, seinen Träumen und Freuden, die ihm über den sehr oft schwierigen Alltag hinweg halfen. Er wuchs in seiner Familie im „Belvedera“ in Malix GR glücklich auf und absolvierte eine Elektrikerlehre bei Elektro Bianchi in Chur. Der Beruf war auf ihn zugeschnitten; er war ein technisch begabter Bastler, Tüftler und Erfinder und eröffnete 1957 an der Reichsgasse in Chur ein eigenes Geschäft. Im folgenden Jahr konnte er ein eigenes Haus mit klassizistischem Einschlag und grauen Sprossen-Fensterläden mit Mittelsteg an der Unteren Gasse erwerben; heute ist ein italienischer Restaurationsbetrieb („Evviva“) dort. Die Fenster sind hier ebenfalls durch Pedimente (flache Dreiecksgiebel) betont.
 
Sein Geschäft „Elektro Pfosi“ war anfänglich ein richtiger Familienbetrieb: Hartmanns Schwester Annetta besorgte die Buchhaltung, und sein Bruder Paul arbeitete bei den Montagearbeiten zupackend mit. Paul wanderte dann in die USA aus und verunfallte dort bei einem Zusammenstoss von 2 Kleinflugzeugen tödlich. Hartmann selber erlitt einen Unfall bei Montagearbeiten an der Brambrüesch-Bahn, und er lernte im Spital seine künftige Ehefrau Minni kennen; die Familie wuchs daraufhin um 3 Kinder an.
 
Ich kann aus vielen Gesprächen mit Hartmann bestätigen, dass sein Beruf auch seine Lebenserfüllung, sein Hobby, war. Wenn immer ich ihn wieder einmal sah, schilderte er mir eine neue Idee, zuletzt waren es heizbare Schliessmechanismen für Kälteanlagen oder Türen, die der Kälte ausgesetzt sind und zufrieren können. Diese Erfindung ging tatsächlich in die industrielle Produktion ein, ohne dass er finanziell davon profitierte – er wollte lieber seine Ideen umsetzen als sich mit Fragen der Patentierung herumschlagen.
 
Sein Geschäft beschäftigte in den besten Jahren bis zu 35 Personen. Nach 40 Jahren gab er es auf, zog sich in sein Heim im Gyr in Malix GR zurück, das er auf dem elterlichen Grundstück an einer prächtigen Aussichtslage gebaut hatte. Die zur Lenzerheide führende Passstrasse ist dort in jüngster Zeit ausgebaut worden; die Kurven sind weiter, wahrscheinlich ein Entgegenkommen an die immer grösser werdenden Lastwagen.
 
Im Umfeld seines Heims konnte Hartmann seine Zuwendung zur Natur, die seinem inneren Bedürfnis entsprach, intensivieren, mit seinem Gott näher in Verbindung treten und intensive Rauchopfer aus dem Zigarettenpaket darbringen. Er war gross gewachsen und etwas drahtig, hellhäutig, hatte eine weiche Stimme und war von sanftem Wesen, gar nicht so, wie man sich einen harten, Walser-stämmigen Bündner vorstellt. Im Gyr wollte er ein Elektromuseum einrichten; eine reiche Sammlung aus alten Gegenständen aus dem Elektroinstallationsbereich ist bereits entstanden, und viele Fachleute, die vergriffene Bestandteile suchten, wurden bei ihm fündig.
 
In den letzten Jahren machte ihm ein sich ausbreitendes Krebsleiden stark zu schaffen; doch davon sprach er nicht, sondern von seinen Fantasien, Träumen, Naturbegegnungen. Mit Krankengeschichten belästigte er seine Umgebung nicht; sie waren seine persönliche Sache. Als die mit dem sich ausbreitenden Leiden verbundenen Schmerzen immer grösser wurden, mussten starke Medikamente, die den Geist manchmal etwas trübten, verwirrten, für eine Linderung sorgen. Er hoffte noch lange auf eine Besserung, bis sein Wunsch, aus dieser Welt scheiden zu dürfen, übermächtig wurde und der Tod, wie dies oft der Fall ist, als Erlöser kam. „Er schlief friedlich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht im Lindenhof (Alters- und Pflegeheim in Churwalden) ein“, wie Peter Reichen sagte.
 
Joe Tscharner spielte noch 2 Stücke, worunter die Volksliedmelodie „Alles, was bruchsch uf de Welt, das isch Liebi“. Es war die Art von Hartmann, dem diese Musik galt, dass er vor allem Liebe gab.
 
Die Feier war kurz, eindrücklich, ohne religiöses Verbrämen. Wer mehr Religionsbedarf als ich hat, mag dies als Mangel empfunden haben. Mir entsprach diese Art der Hinwendung einzig auf den Menschen, um den es ging. Für mich war das eindrücklich. Dann wurde der Sargdeckel geöffnet – und mit aschfahler Haut und zuversichtlichem Gesichtsausdruck lag Hartmann da. Ein Freund von ihm berührte seine kalte Hand – die letzte Berührung. Wir werden Dich nicht vergessen, lieber Hartmann.
 
Im Bischofsbezirk
Für uns ging das Leben weiter. Man traf sich zu einer Stärkung mit Bündnerfleisch, Salsiz, Käse usf. im Hotel Marsoel oben an der bereits erwähnten St. Luzistrasse in Chur, wo an lichtvoller Aussichtslage auch die Kathedrale Chur und der Bischofssitz sind – neben weiteren Kirchen. Hier konnte also ein allfälliges Manko an religiöser Symbolik und Monumentalität noch gedeckt werden. Wir stellten das Auto im bischöflichen Hof ab, wo auch der Eingang zur bischöflichen Verwaltung ist.
 
Der über die Stadt Chur, die einst von Stadtmauern umgeben war, erhabene bischöfliche Hof mit seiner Befestigungsanlage hat sich, abgesehen vom bewirtschafteten Parkplatz, den modernen Einflüssen weitgehend entzogen. Dort oben ist seit je ein Städtchen neben der Stadt. Das dominante Gebäude ist die Kathedrale St. Mariae Himmelfahrt am oberen Ende des Platzes – die Kirche wurde nach einer hundertjährigen Bauzeit um 1272 eingeweiht. Man betritt den Innenraum durch ein romanisches Stufenportal.
 
In die spätromanische Anlage wurde eine reiche Barockausstattung mit viel Gold gestellt, sicher nicht eben zum Vorteil des ursprünglichen, schlichten und architektonisch meisterhaften Werks. Der spätgotische Hochaltar gilt als der bedeutendste und grösste Schnitzaltar der Schweiz, ein Kunstwerk mit 150 fein herausgearbeiteten Figuren aus den Jahren 1486 bis 1492. Eindrücklich ist, dass das Altarhaus und das Chorquadrat einerseits und der Chor und das Kirchenschiff anderseits nicht in einer Geraden verlaufen, sondern von einer genickten Achse bestimmt werden. Das Presbyterium (der dem Klerus vorbehaltene Chorraum) ist ein unregelmässiges Viereck; die Südseite ist länger als die Nordseite.
 
Links neben der Kathedrale ist das bischöfliche Schloss, dessen Fassade mit üppigen Stuckaturen versehen ist, die um 1733 entstanden sind. Dieser Baukörper ist von 2 verhältnismässig schlichten Häuserreihen flankiert, die am Ende des Platzes in einen turmähnlichen, währschaften Bau, die Hofkellerei, zusammenlaufen. In der Häuserreihe auf der Schlossseite ist auch die Dompropstei untergebracht.
 
Im Hotel Marsoel
Das Hotel Marsoel (Marsöl), ausserhalb des Bischofbezirks, wurde 1909 im Auftrag des Churer Bischofs Georg Schmid von Grüneck (Amtszeit: 1808‒1832) an jener Stelle erbaut, wo sich früher die Stallungen der Churer Domherren befanden. Der Architekt, Balthasar Decurtins, staffelte den Baukörper und zitierte stilistische Merkmale umliegender Bauten, lockerte die Giebel auf, so dass das Haus aussah, als sei es schon immer da gewesen. Es dient nach wie vor den leiblichen Genüssen.
 
Man weiss ja schon vom Messwein her, dass die katholischen Würdenträger schon immer gern einen hinter die Binde gegossen haben. Alles was sie brauchen, war und ist Wein. In meiner katholischen Kindheit, in die ich unverschuldet hineingeboren worden war, habe ich die Pfarrherren immer beneidend bewundert, wenn sie aus diamantbesetzten Goldkelchen kraftvoll zupackend ihren Messwein schlürften. Und da ich es Gott sei Dank nie zum Pfarrer gebracht habe (was eine totale Fehlbesetzung gewesen wäre), liess ich mich dazu inspirieren, mir eigene Weinkeller zuzulegen, die sich sehr bewährt haben. Das einzig Sinnvolle, was ich bei den mir aufgezwungenen Kirchgängen in der Kindheit gelernt habe.
 
Also nahmen wir auch im „Marsoel“ noch einen tüchtigen Schluck Mont sur Rolle auf Hartmann, der uns diesen unvergesslichen Tag mit seinen Tiefen und Höhen beschert hat. Wie gern ich mit diesem liebenswürdigen, gütigen und geradlinigen Menschen noch einmal angestossen hätte!
 
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