Textatelier
BLOG vom: 03.09.2009

Tonen: Unverhofft zeigte sich der Geist von Albonago TI

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Er zeigte sich mir in einer Figur aus Lehm, die ich spielerisch geschaffen hatte. Im Reka-Dorf Albonago im Tessin, wo wir unsere diesjährigen Familienferien verbrachten, wurde nebst den Rekalino-Programmen für Kinder auch eines für Erwachsene angeboten. „Tonen im Freien“. Tonen heisst mit Ton (Lehm) arbeiten.
 
Die Sozialpädagogin und Maltherapeutin Jasmine Them Schmid leitete unsere Gruppe (10 Personen) an, eine Kugel zu formen. Sie zeigte den handwerklich richtigen Weg. Aufbauend, wie sich alles in der Natur entwickle. Schichten um Schichten wurden so zusammengefügt und zusammengeknetet, dass nach und nach die Kugelform entstehen konnte. Wichtig sei diese Bearbeitung, damit die Luft aus dem Material verdrängt werde. So wird Brüchigkeit verhindert. Auf keinen Fall soll ein Stück Lehm nur vom grossen Klumpen abgetrennt und sofort zu einer Kugel gerollt werden. Zu einfach. Der Lehm brauche unsere Hände, unsere Berührung, das Kneten, Formen, Spielen.
 
Auf halbem Weg zur Kugel hatten wir unser Werkstück in die rechte Hand und eine zweite von der Nachbarperson in die andere entgegenzunehmen, um sie zu fühlen und zu vergleichen. Gewicht und Form in der Hand zu erspüren, zu vergleichen. Erstaunlich. Wir begannen alle mit einem ungefähr gleich grossen Stück Ton. Die Gewichte fühlten sich dann aber ganz verschieden an. Es gab Kugeln, die leicht geworden waren, andere empfand ich schwer und dumpf.
 
Ich selbst war da erst auf dem Weg zur Kugelform, liess meine Hände ohne Befehle aus dem Kopf etwas machen. Es entstand ein Vielflächner, weil ich die Tonmasse gerne auf den Tisch klatschte. Die Kursleiterin bemerkte diese Abart und sie gefiel ihr. So blieb ich ihr einigermassen treu und wollte die Kugelform gar nicht mehr erreichen.
 
Neben mir werkte Nora in Zusammenarbeit mit dem Grossvater. Das 3-jährige Kind liebt Knetmassen über alles, kann sich damit verweilen, weil sie wandelbar sind und der Fantasie folgen können. Was da entstand, war einzig das Produkt der sinnlichen Erfahrung, der spielerischen Sprache von Händen und Fingern.
 
Trotzdem wunderte ich mich, wie Nora mitmachte und zu Beginn sogar sehr aufmerksam auf ihrem Stuhl sass und zuhörte. Für sie wurden 3 Plastikstühle übereinander geschoben. So sass sie mit den Erwachsenen auf gleicher Höhe. Nora erschien mir an diesem Abend älter, erwachsener und zu allen Spielereien, die Grossvater für sie einbaute, bereit. Sie störte niemanden. Tagsüber erlebten wir sie als Wiesel, umtriebig und gerne als Anführerin.
 
Nächster Schritt für uns alle, nachdem die Kugelform erreicht war: Spuren anbringen, Spuren zulassen. Nora und Grossvater rollten ihre Kugeln auf dem Kiesweg vor sich her. Einerseits setzten sich Kiesel fest, andererseits verpassten die Steine Grübchen, Löchlein, Striche usw. Ich drückte meine Masse an die grobe Hauswand mit ihren Steinquadern und rollte sie später einen Abhang hinunter. Und dann zeigte sich der Geist. Es hatten sich 2 markante Augen eingegraben, die Stirne trat hervor, eine Nase war eingezeichnet, nur der Mund fehlte. Den ritzte ich ein. Die Form eines Kopfes war ohne mein Zutun entstanden. Sie gefiel mir. Sofort erkannte ich eine alte, wissende Persönlichkeit. Ihre Gesichtshaut voller Runzeln. Alt und doch auf eine eigene Art lebendig. Der Ausdruck freundlich. So habe ich mein Werk belassen.
 
Es wurde ruhig gearbeitet. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, fühlten wir uns verbunden und tags darauf, als wir uns im Reka-Dorf wieder begegneten, waren wir Bekannte.
 
Dieses Reka-Gelände ist ansehnlich. Auf einer Fläche von 33 000 m2 stehen 43 Ferienhäuschen und Ferienhäuser. Es befindet sich am Hang des Monte Brè, ungefähr auf halber Höhe.
 
Später konnte ich Frau Schmid nochmals treffen. Sie erzählte mir von ihren Motiven und Erfahrungen als Sozialpädagogin. In diesem Feriendorf ermöglicht sie den Kindern spielerische Konzentration, spielerisches Zusammenfinden, schöpferisch tätig zu sein. Hier gibt es keine Wertungen wie in der Schule. Alle Werke sind Originale, gehören zur Person, die sie geschaffen hat. Sie sind Ausdruck unserer Verschiedenheit.
 
Das gerade aktuelle Rekalino-Programm für die Kinder war mit dem Thema „Spuren“ überschrieben. Kinder in der Gruppe ab 6 Jahren haben sich darüber Gedanken gemacht. Welche Spuren hinterlassen Menschen, welche Tiere?
 
Abfall auf Strassen, Streifen am Himmel, Schmutz in der Luft, der Kuhfladen auf der Wiese und überall, wo wir nicht aufräumen, nicht sauber sind. Andererseits sind die kleinen Kunstwerke, die Kinder manchmal herstellen, Spuren ihrer Entwicklung, die wir erst später deuten können.
 
Wie ich verstand, wurden auch Steine spielerisch ausgelegt, um den Weg, der gegangen worden ist, später wieder zu finden. Dafür sind Ferien auch da, dass wir Zeit haben, solche Erfahrungen zu machen. Die Hast ablegen und in scheinbar unwichtigem Tun den Sinn zu finden oder sogar dem Geist von Albonago zu begegnen.
 
*Frau Schmid sagte mir, sie habe 2 Wege vor sich gesehen, ihren Beruf als Sozialpädagogin auszuüben: In einem Heim, als „Feuerwehrfrau“ oder als Therapeutin, die Erfahrungen und Werte vermitteln und vorbeugen will, dass die „Feuerwehr“ gar nicht gerufen werden muss. Diesen hat sie gewählt.
 
Hinweise
*Jasmine Them Schmid: jasminethem@hotmail.com
Reka-Feriendorf: reka.albonago@bluewin.ch
Reka-Feriendörfer allgemein: www.reka.ch
 
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