Textatelier
BLOG vom: 09.10.2009

Im „Rössli“ Schnottwil (SO) so gelernt: Alles ist so, wie es ist

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Wer war wohl Snoto? Keine Ahnung. Dieser Personenname war es immerhin, welcher der Gemeinde Schnottwil (Snotwile, Snotenwiler, Snottwil) zu ihrem Namen verhalf: Schnottwil bedeutet als die „Höfe des Sonoto“ oder: der Weiler (kleine Siedlung) des Snoto.
 
So ausgefallen wie ihr Name ist die Lage der Gemeinde Schnottwil am westlichen Ende des Buecheggbergs. Sie gehört zum Kanton Solothurn und ist auf 3 Seiten vom Kanton Bern umarmt. Dieser Staat Solothurn sei „ein Ding mit vielen Gliedern, aber ohne Leib“, schrieb Gottlieb Burckhardt (1805‒1882) in seiner „Basler Heimatkunde“. Der Kantonsumriss sieht, aus Süden betrachtet, wie ein Tatzelwurm mit abgelösten Ohren aus, der betont breitspurig daher schreitet. Ich darf diesen Vergleich wohl wagen, weil ja die Tatzelwurm-Form auch nicht genau definiert ist.
 
Tatsächlich gibt es keinen anderen derart zerrissenen, unförmigen Kanton. Das führt dazu, dass man ihn beim Durchqueren verlässt, in den Kanton Bern eintritt, sich bald wieder von diesem verabschiedet und, ohne die Fahrtrichtung wesentlich geändert zu haben, wieder ins Solothurnische kommt und bald wieder im Kanton Bern anlangt. Noch verzwickter ist es im basellandschaftlichen-solothurnischen Bereich, wo Exklaven (Hofstetten, bestehend aus Hofstetten, Metzerlen und Rodersdorf einerseits und Kleinlützel anderseits) die geografischen Anomalien noch verzwickter machen. Das kommt daher, dass die Nachbarn im Spätmittelalter mit unterschiedlichem Erfolg versucht haben, sich in den Kanton Solothurn hineinzufressen, Stücke herauszureissen.
 
Jedenfalls war ich bei meinen noch immer mangelhaften Kenntnissen in Schweizer Geografie für mein Navigationsgerät im Prius dankbar. Es führte mich wunschgemäss nach Büren an der Aare BE, das eigentlich mein Hauptziel war (wird speziell verbloggt), und dann, meiner schriftlichen Eingabe entsprechend, nach Schnottwil. Eigentlich hatte ich dort im Prinzip überhaupt nichts zu suchen. Doch hat mir ein Bekannter aus Solothurn vor Jahren einmal gesagt, er habe gehört, das dortige „Rössli“ sei eine bemerkenswerte Beiz nach altem Stil; er selber sei zwar noch nie dort gewesen. Aber weil er wisse, dass ich immer auf der Suche nach Kuriositäten sei, gebe er mir diese Information weiter. Sie fiel auf fruchtbaren Boden.
 
Büren a. A.‒Schnottwil
So fuhr ich denn nach der Besichtigung von Büren a. A. und dem benachbarten Meienried (darüber werde ich ebenfalls noch schreiben) auf der ziemlich geraden Strasse durch den Eichwald nach Schnottwil. Im Wald senkt sich die gerade Route um etwa 8 Meter ab und steigt dann wieder um etwa 20 Meter an. Nach dem Wald geht die Steigung weiter, so dass man sich beim Auftauchen der ersten Schnottwiler Häuser deutlich über die Aaretalebene (Grenchenwiti und Häftli) erhoben fühlt. Hier oben auf dem Molassehügel (502 m ü. M.), am Westabhang des Buecheggbergs und zu beiden Seiten des Illigrabenbachs, der dem Eichibach und damit der Alten Aare zufliesst, haben die beiden Jura-Gewässer-Korrektionen keine Spuren mehr hinterlassen.
 
Seit dem Mittelalter unterstand dieses Schnottwil der Herrschaft Buchegg, die ihrerseits zur Landgrafschaft Kleinburgund gehörte. Dieses von den Landgrafen beherrschte Gebiet hatte mit dem französischen Burgund wohl herzlich wenig zu tun; den Namen hatte Aegidius Tschudi (1505‒1572) an den Haaren herbeigezogen. Sie umfasste, von der Aare im Westen und Norden begrenzt, die Landschaft zwischen dem Berner Oberland und dem Jurasüdfuss mit dem Oberaargau und dem Napfgebiet. Auch die Klöster Frienisberg und Fraubrunnen machten hier das geltend, was sie als ihre Rechte betrachteten. 1391 wurde die Herrschaft von Solothurn gekauft und zur Vogtei Buecheggberg umgewandelt. Bei der Verkäuferin handelte es sich um Elisabeth von Bechburg, der letzten Vertreterin der Buechegger; sie war die Gattin des Freiherrn von Buchburg, der am 13.07.1386 in der Schlacht von Sempach sein Leben verloren hatte – beim Kampf gegen die hab- und machtgierigen Habsburger, im Kampf um die Unabhängigkeit, die damals noch etwas galt. Das war einmal.
 
Im Berner Stil
Das Dorf Schnottwil entwickelte sich nach den Trocken- und Hungerjahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die viele Einwohner zur Auswanderung zwangen, wieder recht gut. Die Gemeinde wuchs inzwischen von 660 (im Jahr 1850) auf 1050 (2008) Einwohner an, was der schönen Aussichtslage zuzuschreiben sein mag. Rund um das Haufendorf im Kern haben sich etwa im Gebiet Ey-Chüpfen sowie im Dägischer im Norden und im Hübeli neben der Allmend im Süden Einfamilienhäuser etabliert. Im Zentrum ist der bäuerliche Charakter erhalten (das Land eignet sich für Ackerbau, Obstbau, Viehzucht). Der Baustil ist vom umgebenden Kanton Bern stark geprägt, wobei der Ständer- und Fachwerkbau als Mischung von Holz und Stein häufig ist. Wohnteil, Tenn und Stall sind unter dem einen grossen Dach vereinigt, das nach dem Prinzip der tragenden Mitte konstruiert ist. Strohdächer wurden durch Ziegeldächer ersetzt.
 
Heute sind neben den Bauern auch einige Gewerbebetriebe da, so der Gasthof „Krone“, ein siebenachsiges, klassizistisches Bauwerk, und auch der schöne Dorfladen „Treffpunkt“, der das Parterre eines alten Fachwerk-Bauernhofs mit Krüppelwalmdach und Ründe (Halbrundbogen im Giebelbereich) belebt. Gleich daneben befindet sich das 1820 im angepassten bäuerlichen Stil erbaute, ehemalige Schulhaus, das 1868 einen wuchtigen, überdimensionierten Glockenturm mit spitzigem Helmdach auf dem massiven, mit dunkel eingefärbten Schindeln verkleideten Turmschaft, eigentlich ein Dachreiter, erhielt. Eine grosse Uhr zeigt, was es geschlagen hat. Die Zeit zerrinnt, nagt. Die Metzgerei Ritz ist seit dem 01.08.2009 geschlossen; sie war ebenfalls in einem ehemaligen Bauernhaus untergebracht, dessen Fassade blutrot gestrichen wurde. Am Stock eines Doppel-Brunnens – die Becken sind um 90 Grad versetzt – tat ein von Frieda und Chläis Suter angefertigtes Plakat kund, dass die Eier-Versorgung gesichert ist: „Direkt zu verkaufen **täglich frisch** EIER von glücklichen Hühnern Fr. 0.45/Stk. 6 Stück = 2.70.“ Bei solchen Preisen liegt kein Mengenrabatt mehr drin.
 
Das Rössli
Aber ich wollte hier ja vom „Rössli“ erzählen, wo ich am Samstag, 03.10.2009, um 16.04 Uhr eintraf. Das traf sich gut, vermeldete doch eine mit Kreide beschriftete schwarze Tafel neben dem Eingang „Ab 16 Uhr offen“. Neben der Tür stand ein ausgewachsenes, himmelblau und damit zum Wetter passendes Benzinfass, wie es die Sklaven in der Karibik als Musikinstrumente benützten, nachdem die weissen Schinder ihnen die Musikinstrumente konfisziert hatten – arbeiten statt musizieren sollten sie, war die Devise der Ausbeuter. Doch gab es hier, in Schnottwil, keine Steelband-Musik im lateinamerikanischen Rhythmus, sondern zwischen dem oberen Fassreis war Sand ausgebreitet, in dem man brennende Raucherwaren ausdrücken konnte. Ich opferte den Rest meines ohnehin erloschenen „Rio 6“-Stumpens, auf dessen Packung steht: „Rauchen ist tödlich.“ Und auf der Vorderseite wird die Todesnachricht noch durch die Botschaft ergänzt, das Rauchen könne zu Durchblutungsstörungen und zu Impotenz führen, als ob es bei Toten darauf noch ankäme.
 
Das Rössli war sicher einmal ein schönes Haus im behäbigen Berner Bauernhausstil, vorne grau verputzt, an der Seitenfassade geschindelt. Unter dem überkragenden 1. Stock, dessen Vorsprung von Holzstützen auf Steinsockeln getragen wird, waren Berge von Harassen mit leeren Hürlimann-Bier- und anderen Flaschen aufgestapelt, was auf einen enormen Umsatz hindeutete. Doch das Haus mit den grünen Fensterläden mit verstellbaren Lamellen machte einen verwahrlosten Eindruck. Vom Wirtshausschild hing nur noch die Aufhängevorrichtung an der Vorderfassade. Das Bauwerk wirkte alt und müde.
 
Der Briefkasten ist mit Frieda Loosli beschriftet, und ich drückte auf die Klinke. Sofort drehte sich innen ein Schlüssel. Eine füllige Frau, wesentlich jünger als ich sie mir vorgestellt hatte, stand im Türrahmen und liess mich eintreten. Immer, wenn sie Zeit habe, komme niemand, aber wenn sie in Eile sei, komme einer, begrüsste sie mich. Ich nahm an einem schweren Holztische mit den verstrebten, gekreuzten Beinen unter halbkugeligen, mit grobmaschigem Stoff bezogenen Lampenschirmen Platz, bestellte einen Kaffee. Philips-Energiesparlampen sind eingeschraubt. Der Raum ist mit Tannenholz allseitig getäfert. In der hinteren Ecke ist die Theke mit Kaffeemaschine und Kasse, das Reich der Wirtin. „Also, es Kafi wänd er“ (Also, einen Kaffee wollen Sie), wiederholte sie, füllte den Wasserbehälter mit frischem Wasser, schaltete das Gerät ein und fuhr mit einem Lappen über die Theke. „Ja, gern“, gab ich bestätigend zu Protokoll.
 
Ich suchte verzweifelt nach einem Einstieg für ein lockeres Gespräch und sagte etwas unbeholfen, das sei jetzt aber ein wirklich urtümliches Restaurant. „Was heisst das: urtümlich?“, fragte die Wirtin nach meinem Empfinden etwas forsch, fast vorwurfsvoll, und fuhr sich übers glatte, nach hinten gekämmte Haar. „Das heisst im alten Originalzustand belassen, unverbildet ... und vielleicht auch gemütlich.“
 
Wir beide waren im Grunde genommen eher schlecht gelaunt. Frau Loosli wegen des eher ungebetenen Gasts und ich, weil ich um 16 Uhr in den Autoradio-Nachrichten vernommen hatte, Irland habe im 2. Anlauf den Vertrag von Lissabon angenommen. So liess sich also ein ganzes Volk ködern, kaufen. Nun blockiert neben Polen im Wesentlichen nur noch Tschechien dank des weitsichtigen Václav Klaus dieses Verfassungsmachwerk, mit dem die EU-Länder alle wesentliche Macht nach Brüssel abgeben. Aber viel war davon ohnehin nicht mehr da; Irland durfte als einziges EU-Land über die Grundsatzfrage abstimmen. Und dieses Irland (Irrland?), dem verschiedene Köder zum Frasse vorgeworfen wurden, stimmte aus der Not seiner Wirtschaftskrise heraus zu, als ob aus Brüssel Hilfe zu erwarten sei. Ich ärgerte mich. Und auch die penetrante Antiraucher-Kampagne geht mir als Genuss-Gelegenheitsraucher auf den Wecker. So viel zum Zustand der Laune.
 
Nachdem sie meine Definition von „urtümlich“ bedacht hatte, sagte Frau Loosli, jedem überbordenden Innovationsgetue abhold: „Do inne isch nüt neu“ (In diesem Raum ist nichts neu). Die Tonlage wirkte belehrend, was unnötig war. Mir war das ja auch aufgefallen, und so bestand kein Grund zum Widerspruch. Und die Wirtin fügte in geradezu lebensphilosophischer Art etwas bei, das ich mir, einem spontanen Entschluss nachgebend, zur Maxime für alle Fälle machen werde: „S’isch wies isch“ (Es ist wie es ist).
 
Eine grossartige intellektuelle Leistung, in ihrer Einfachheit nicht mehr zu übertreffen: Ja, wirklich, so ist es, und so war es, und so wird es immer sein, wenn auch mit gewissen Abstrichen.
 
Inzwischen war die Zeit für das Auftragen des Kaffees angekommen. Auf dem Tablett befanden sich neben der Tasse ein Stück Zucker, portioniert, eine ebenfalls abgepackte Rahmportion und ein Milchschokoladestängel mit Pralinéfüllung und Haselnussstücken („Branche Classic“), 22,75 g schwer. Noch nie habe ich zu einem Kaffee ein derart grosses Stück Schokolade erhalten(vielleicht müsste man auf solchen Produkten auch einen Diabetiker abbilden). Und der Kaffee schmeckte auch gut; er hatte etwas Ähnliches wie der Kaffeehafenkaffee meiner Mutter, passend zur Einrichtung.
 
Meine Stimmung verbesserte sich von Schluck zu Schluck. „Der Kaffee schmeckt gut“, posaunte ich in der Hoffnung auf eine allseitige Verbesserung der Stimmungslage in die Stille der Wirtsstube, und ich schob die gewagte Frage nach: „Kann man hier auch essen?“ – „Nein, nein“, sagte die Wirtin, die neben der Theke lustlos in alten Zeitschriften blätterte. „Aha“, erwiderte ich, im logischen Denken geschult, „deshalb öffnen Sie ja auch erst um 16 Uhr.“ – „Ja.“ Kopfnicken.
 
So war nun eigentlich alles geklärt, der Kaffee ausgetrunken. Die Frau berechnete mir bescheidene 3.50 CHF für Kaffee inkl. Schokoladestängel, und ich rundete zur Wiedergutmachung und als Entschuldigung für meine Störung auf 4.50 CHF auf. Ich wollte mich auch grosszügig zeigen, immer nach dem Motto: Kleine Geschenke verbessern das Klima. Die Wirtin warf einen flüchtigen Blick auf die Münzen und schmetterte das Geld in ihr grosses Portemonnaie, wie es im Gastgewerbe gern zum Einsatz kommt, weil es fast beliebig viele Noten und auch Münzen schlucken kann. Sie verabschiedete mich freundlicher noch als sie mich empfangen hatte.
 
Irgendwie hat mir die aufrichtige Art imponiert. Da war nichts Gekünsteltes dabei, aber auch gar nichts von dem, was man wahrscheinlich in Servierkursen und gastronomischen Ausbildungen lernt. Wer schlecht gelaunt ist, soll seine schlechte Laune doch zeigen dürfen.
 
Und wer die Missstimmung verloren hat, der darf auch seine Frohmut kundtun. Jeder Zeitpunkt ist neu – und immer ist es genau so, wie es ist, ob es uns passt oder nicht. Genau so wie im unvergesslichen Schnottwil mit seinem „Rössli“ in seiner weisen Abgeklärtheit.
 
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