Textatelier
BLOG vom: 20.11.2009

Appenzeller Volksleben: Wo man Fenz und Bäcklen verträgt

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Im Blog über die Gemeinde Teufen AR habe ich die kerngesunden Appenzeller gelobt, vorerst ohne Gründe dafür zu eruieren. Das holte ich gleichentags, am 03.11.2009, bei einem Besuch im Appenzeller Volkskunde-Museum neben der Schaukäserei in Stein AR nach.
 
Dieses Stein liegt westlich von Teufen in einem Keil zwischen den Flüssen Urnäsch und Sitter. Dort kommen Brückenliebhaber auf ihre Rechnung. Etwa 20 Brücken und Fussgängerstege, worunter 4 bis zu 230 Jahre alte, gedeckte Holzbrücken und moderne Strassenbrücken aus Beton, verbinden Stein mit den umliegenden Dörfern wie Haslen, Teufen und der Stadt St. Gallen. In diesem Zusammenhang taucht wieder der Name des Baumeisters Hans Ulrich Grubenmann auf, der wusste, wie man grosse Distanzen stützenfrei überbrückt. Er hat z. B. 1778 die Brücke über die Urnäsch im Kubel gebaut, nachdem die Vorgängerin von einem Hochwasser weggespült worden war. Der 8 km lange Themenpfad „St.Galler Brückenweg – 18 Brücken" führt durch wild-romantische Schluchten und eine kraftvolle Landschaft.
 
Grubenmann war es übrigens auch, der die evangelische Dorfkirche von Stein entworfen hat, die durch ihre Proportionen und ihre Leichtigkeit trotz der beachtlichen Grösse besticht und als schützenswertes Kulturgut eingestuft ist. Die einfache Konstruktion mit Satteldach und Spitzturm passt wunderbar zur Appenzeller Bauweise im profanen Sektor.
 
Kräftigendes Essen
Doch will ich den roten Faden nicht verlieren: Brücken, die ja als Orte der Kraft gelten, und eine schöne Kirche gewährleisten noch lange kein gesundes Leben. Die Ernährungsweise mag da wesentlich mehr dazu beitragen. Und wenn man an Appenzell denkt, kommen einem zuerst einmal der würzige Appenzeller Käse und der Appenzeller Alpenbitter in den Sinn. Bei der Schaukäserei in Stein steht ein fast haushohes, nachgebildetes Käsestück, das den Sinn der eher kleinwüchsigen Appenzeller fürs Gigantische belegt. Milchprodukte spielen in der Ernährung wegen der viehzüchterisch und milchwirtschaftlichen Ausrichtung des bäuerlichen Lebens gewiss eine wichtige Rolle. Im Volkskundemuseum habe ich in einem Videodokument vom typischen Älplergericht „Fenz“ gehört, und die nette Sekretärin des Museums, Elisabeth Berweger, druckte mir das dazu gehörige Rezept aus:
 
Zutaten: 250 g Butter, 2 Esslöffel Mehl, 2 dl Milch und Salz.
Zubereitung: das halbe Pfund Butter auf kleiner Hitze in der Pfanne schmelzen. Das Mehl mit der Milch zusammen anrühren und zur Butter geben. Kurz kochen, bis die Masse gebunden ist und Salz nach Belieben zufügen.
 
Normalerweise wird diese Kalorienbombe zusammen mit Brot und kalter Frischmilch gegessen, an Feiertagen mit etwas Weisswein. Ist so etwas gesund? Kein Mensch behauptet, die Appenzeller würden sich ausschliesslich von Fenz ernähren. Sie haben auch ihre Käseschnitten, ihren Käsefladen mit Ghacktem (Hackfleisch), und wenn sie ihre Appenzeller Rösti machen, kommen viel Speck und Käse und Zwiebel dazu, und an einen Buttereinsatz wagen sie sich auch heran. Die Kartoffeln werden mit Vorliebe mit Speck und Eiern kalorienmässig aufgerüstet, so etwa die Kartoffelgalettli. Und beim Chatzegschrää (Katzengeschrei) gibt man reichlich Kalbsbrät auf die Rösti aus geschwellten Kartoffeln (Pellkartoffen), die man natürlich in Butter brät. Am Ende kann man noch immer ein grösseres Stück Rahmfladen geniessen, zu dem neben der Hauptzutat Rahm auch Milch und Eier gehören, abgesehen vom butterigen Hefeteig. Die Moschtbröckli-Gerichte muten vergleichsweise wie Schlankmacher an. Moschtbröckli sind geräuchertes und getrocknetes Rindfleisch; ich habe schon solche aus dem leicht süsslichen Pferdefleisch gefunden. Ich musste während meiner Ausbildung in Herisau jeweils solche für meinen Vater heimbringen und habe mich selber gern daran vergriffen.
 
Wenn man das so hört, würde man meinen, die Appenzeller seien alle fettleibig, was überhaupt nicht zutrifft. Im Gegenteil: Man sieht dort kaum dicke Leute. Das mag damit zu tun haben, dass sie ausserordentlich fleissig sind und sich viel bewegen. Das entschärft die Kalorienbomben eindeutig.
 
Zarte Arbeiten
Die Appenzeller verrichten allerdings nicht nur grobe Arbeiten, wie ich im Volkskundemuseum gelernt habe, sondern sie haben auch ein ausgesprochenes Talent fürs Feine, Ziselierte. So waren die Appenzellerinnen für ihre Handstickereien berühmt – eine Tradition, die vor allem auch in St. Gallen Glanzresultate hervorbrachte. Die Grundlage waren Stoffe aus den Handwebereien, die einen Zusatzverdienst zur Landwirtschaft bildeten. 1860 zählte man im Appenzellerland rund 10 000 Weber auf etwa 50 000 Einwohner. Neben den einfachen Webstühlen und der Seidenweberei wurden auch Plattstichgewebe hergestellt (nicht zu verwechseln mit Plastikgewebe ...). Mit dem entsprechenden, 1805 von Joseph-Marie Jacquard in Lyon F entwickelten Webstuhl konnten über eine Lochkarte die Kettenfäden einzeln gesteuert werden. Dadurch konnten Muster eingewoben werden, und den Rest besorgten die Sticker. Doch die Ausrichtung auf die Heimarbeit verunmöglichte es, dass die Heimweber und -sticker der industriellen Entwicklung folgen konnten, auch Modeeinflüsse. Der 2. Weltkrieg trug ebenfalls zum Niedergang des Webens und Stickens bei.
 
Vermutlich waren es die Landschaft und die handwerkliche Kultur, die bei den Appenzellern neben dem Hang zum Währschaften auch den Sinn fürs Schöne geweckt und zur Entfaltung gebracht haben. Wandert man durch das dreigeschossige Volkskundemuseum, steht man überwältigt vom kunsthandwerklichen Geschick vor all den wunderschön verzierten Gegenständen. Ein mit Geräten für die Käseherstellung auf der Alp beladener Lediwagen ist ein Schaustück. Die Holzgefässe – Milch-, Butter- und Käsegeschirre – aus der Weissküferei sind mit sennischen Darstellungen rundum beschnitzt. Auf den bemalten „Bödeli“ (Böden) der Melkeimer, die der Senn während der Alpfahrt auf der linken Schulter trägt, sind Sennentrachten aus dem 19. Jahrhundert aufgemalt.
 
Die Trachten
Diese Trachten, die auf den früheren Moden der höheren Gesellschaft wie etwa am Hof des Herzogs von Burgund aufbauten, wiederum sind bis ins Detail ausgeschmückt. Auf den Sennenschuhen fällt eine ziselierte Silberschnalle auf. Beim Knieansatz über den gestrickten weissen Socken befindet sich der mit Silber verzierte Leder-Knieriemen. Ein optischer Ruhepol ist die gelbe Lederhose, über der eine silberne Uhrenkette auf eine verzierte Taschenuhr schliessen lässt. Selbstverständlich ist auch das Taschentuch („Sennenfetzen“) bedruckt, und selbst ein silberner Fingerring gehört dazu. Die rote Jacke (das „Brusttuch“) ist die nächste Attraktion, lässt man den Blick von unten nach oben schweifen. Das weisse Sennenhemd ist bestickt, versteht sich. Die Hosenträger mit Trägerband und Bruststeg aus Leder sind eigenständige Kunstwerke, ebenfalls bestickt oder mit Messingbeschlägen geschmückt, die an magische Zeichen alter Kulturen erinnern.
 
Die weiteren Attribute der Tracht sind eine vergoldete Brosche beim Kehlkopf, eine silberbeschlagene Pfeife („Lindauerli“, „Lendauerli“), vergoldete Ohrringe und ein blumengeschmückter Hut. Die einzelne Tracht enthielt über 70 Kuhdarstellungen in Stoff, Messing, Silber und Gold. Trachtenvereinigungen bemühen sich heute, dass das Volks- und Brauchtum nicht verloren geht. Der Alt-Bundesrat Arnold Koller, 1933 in Appenzell geboren, bezeichnete die Tracht einmal als „sinnfälliger Ausdruck der Zusammengehörigkeit und der Verbundenheit eines Volkes, seiner Lebensweise, seiner Geschichte und Weltanschauung“.
 
Schmuckbedürfnis
Die Appenzeller, die flächenmässig nur etwa 1 Prozent der Schweizer Landesfläche belegen, schmückten schon immer alles aus, auch Kühe und die Kuhglocken aus dem Tirol. Die Möbel wie Schränke und Himmelbetten bemalten sie mit Ornamenten; sie wurden zu Statussymbolen dörflicher Eliten, bis dann mit der napoleonischen Revolution jeder Bürger (citoyen) gleich war. Die Möbelmalerei ist noch älter als die Senntumsmalerei. Selbst die Türfüllungen entgingen ihrem unbändigen Gestaltungsdrang nicht; hier finden sich gelegentlich allegorische Jahreszeiten-Darstellungen. Zu sehen ist auch eine faszinierende Holzbohlenmalerei aus dem 16. Jahrhundert aus der „Säge“ in der Rotenwies in Gais, die fast etwas an die Höhlenmalerei erinnert, aber auch an den kirchlichen Barock und den städtischen Biedermeier; das Werk wurde im April 1977 entdeckt. Im Biedermeier zog man sich ins Heim zurück, und das Familienidyll wurde zum Ideal. Der unbekannte Maler stellte eine Viehherde mit Senn dar (Tempera).
 
Die Bauernmalerei
Dann wäre da noch die Appenzeller Bauernmalerei zu nennen, die für mich gerade wegen ihrer Naivität ausserordentlich reizvoll ist. Es ist eine Art von bewussten Verformungen wie im Expressionismus. Die meisten Motive beziehen sich auf die Alpwirtschaft, dieses Umfeld für die Käse- und Butterproduktion. Zur reinen Butter sagen die Appenzeller „Schmaltz“; es kann sich dabei aber auch um eingesottene Butter handeln. Die so genannten Molkengrempler (Zwischenhändler) waren das Bindeglied zwischen den Produzenten und Konsumenten. Solches kann man alles aus den Gemälden herauslesen. Auf einem Bild von Johannes Zülle (1874) ist ein Grempler mit 3 Saumpferden zu sehen.
 
Vielleicht sind die Urwüchsigkeit, die Hingabe an und die exakte Abstimmung auf die Voraussetzungen eines Orts ein Gesundheitsfaktor. Die Einheit zwischen Natur/Landschaft und Mensch ermöglicht die Entfaltung, gewährleistet ein Glücksempfinden (auch wenn die meisten Appenzeller einen ernsten Blick haben) und Befriedigung. Dann liegen ein Fenz oder eine Speckrösti durchaus drin – und auch das genüssliche Rauchen des Lindauerlis.
 
Das Lindauerli
In meiner Pfeifensammlung ist dieser Typ mit Deckel ebenfalls vorhanden. Der Deckel verhindert das Herausfallen von Glut und ist somit eine Brandschutzmassnahme. Man kann es auch mit nach unten gerichtetem Pfeifenkopf rauchen, so dass das Kondenswasser, das sich in dem heissen Pfeifenkopf bildet, abfliessen kann. Ich habe meine schwarze Sennenpfeife mit dem runden Mundstück mit Kette und kleinen Eicheln einmal mit einem milden Tabak in Brand gesteckt. Das war etwas vom Grausamsten, was ich je geraucht habe; brennende Nielen sind vergleichsweise harmlos.
 
Das Lindauerli ist auf der Innenseite des Kopfs mit einem Weissblech ausgekleidet, das sich sofort erwärmt und auch kein Wasseradsorbtionsvermögen hat. Der Rauch brennt und beisst, in der Pfeife blubbert (soderet) es. Dem Rauchen sagen die Appenzeller Bäklen (der Tabak ist Bak). Dazu werden auch Schwanenhalspfeifen benützt.
 
Aber die Appenzeller saugen tapfer daran; vielleicht ist ihr gelegentlich grimmiger Blick auf die Schmerzen zurückzuführen, die sie dabei empfinden. Aber auch so etwas haut sie nicht um. Sie erfreuten sich schon seit je meiner vollen Bewunderung. Wer das Lindauerli und den Fenz verträgt, ist vollwertig und lebenstauglich.
 
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