Textatelier
BLOG vom: 27.08.2010

Tierpark Roggenhausen Aarau: Ersatz für den Hirschbraten

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Viele Städte und Städtchen leisten sich den Luxus, ihr Ausufern auf der einen oder anderen Seite zu stoppen und einen mehr oder weniger naturnahen Wald zu tolerieren. So ist die Stadt Zürich auf ihren Sihlwald, den grössten zusammenhängenden Laubmischwald des Schweizer Mittellands, stolz, der seit dem Wirken des ehemaligen Stadtforstmeisters Andreas Speich im Prinzip sich selbst überlassen wird und sich seit etwa 1986 zu einer einmaligen Naturlandschaft entwickelt, trotz des seinerzeitigen Protests der auf industrielle Produktion getrimmten übrigen Forstwirtschaft. In Baden AG hat ein naturliebender Stadtoberförster, Georg Schoop, im Teufelskeller und im Unterwilerwald phänomenale Naturwaldreservate entstehen lassen; 25,7 % der Badener Waldflächen (über 143 Hektaren) stehen unter einer spezifischen Naturschutz-Zielsetzung. Bei der Stadt Luzern gibt es neben dem Gütschwald das Sonnenberggebiet mit der Wolfschlucht und dem Gebiet Ränggloch eindrückliche Naturrefugien. Und bei der Stadt Aarau ist der Wildpark Roggenhausen mit schönen Eibenwaldpartien, um nur eine kleine Auswahl von stadtnahen Wäldern aufzulisten.
 
Roggenhausen: Eintritt frei
Natürlich fährt kaum jemand in eine Stadt, um dort schöne Wälder zu erleben, aber für Stadtbewohner ist die Nähe eines grünen Refugiums schon eine Attraktion. Viele Eltern mit Kindern können dort Erholung finden und eine wichtige pädagogische Aufgabe wahrnehmen: Erziehung zur Natur. So ist es auch im Roggenhausentäli, dessen Eingang man zwischen Aarau und Schönenwerd SO (Gebiet Wöschnau) problemlos findet. Von der Stadt aus ist es in weinigen Minuten problemlos zu Fuss zu erreichen – vom Regierungsplatz nach Westen, an der berühmten Glockengiesserei H. Rüetschi AG mit ihrer fast 700-jährigen Tradition vorbei. Nach knapp 1 km zeigt ein Wegweiser nach links zum Wildpark Roggenhausen, an dessen Eingang viele Gratis-Parkplätze sind. Bequem geht es auch mit dem AAR-Bus Linie 3 ab dem neuen Bahnhof Aarau (bis zur Haltestelle Roggenhausen).
 
Wer den Park besucht, braucht keine Eintrittsgebühr zu bezahlen. Der Verein Wildpark Roggenhausen (www.roggenhausen.ch) ist eine grosszügige Institution; er wird heute vom ehemaligen Publizisten (Chefredaktor des „Freien Aargauers“) und ehemaligen Regierungsrat Silvio Bircher umsichtig präsidiert; er war der Natur und dem Umweltschutz schon immer zugetan. Der Verein finanziert den Park aus Beiträgen der Stadt Aarau, der Gemeinden aus der Region, von Mitgliedern und Sponsoren. 2 fest angestellte Tierpfleger und Aushilfen betreuen die Parkanlagen, die einen angenehmen, fast zu ordentlichen Eindruck machen. Am östlichen Parkrand führt eine für den motorisierten Verkehr bis 19 Uhr gesperrte schmale Strasse vorbei, welche die Gehege der Axishirsche, Mufflons (Wildschafe) und der Rothirsche in leicht erhöhter Lage tangiert und an einer Stelle sogar von einer Aussichtsplattform flankiert ist. Die Tiere kann man aus der erhöhten Position sehr schön beobachten, ohne sie wesentlich zu stören.
 
Parktiere haben den Menschen gegenüber ein anderes, zutraulicheres Verhalten als Wildtiere, die in den Zweibeinern immer böswillige Jäger sehen müssen. Zudem können Tiere im Gehege nicht fliehen, sich höchstens in Deckung bringen. Mit der Zeit lernen sie, dass ihnen von menschlicher Seite nicht nur keine Gefahr droht, sondern sie umgekehrt oft mit Futter beschenkt werden, das im Roggenhausen an Automaten gekauft werden kann. Und so steht denn beim Restaurant eine ganze Wildschweinfamilie mit verfetteten Eltern gelangweilt herum. Diese Tiere, die sich suhlen und den Bach erreichen können, lassen sich von Besuchern bestaunen und staunen wahrscheinlich nicht minder über die kuriosen Gestalten hinter dem Hag.
 
Insgesamt sind im Roggenhausen etwa 150 Tiere angesiedelt, sogar Murmeltiere, Hasenkaninchen, Steinmarder aber auch Shetland- und Welsh-Ponys, Schafe und Ziegen. Beim Restaurant wurde ein Weiher angelegt, in dem Reiherenten, Brand- und Graugänse ihr Bad geniessen, von dem sie gar nicht genug bekommen können.
 
Das Kernstück des Tierparks kann auf einem speziell markierten Rundweg begangen werden, der auf der Westseite allerdings wenig attraktiv ist, da er zum Teil mit der Strasse Wöschnau‒Eppenberg identisch ist, immerhin aber näher zu den Damhirschen mit ihrem mächtigen Schaufelgeweih heranführt.
 
Dominanz der Hirsche
Das Hirsche-Sortiment aus einheimischen Rothirschen und exotischen Dam- und Axishirschen ist wahrscheinlich das tragende zoologische Element in diesem Tierpark. Jedenfalls nehme ich das aufgrund meiner persönlichen Beobachtungen und der Lektüre der Broschüre „Wildpark Roggenhausen Aarau 19031953“ an, die der ehemalige Aarauer Lehrer und Lokalhistoriker Paul Erismann zum 50-Jahre-Bestehen des Parks (1953) verfasst hat. Erismann war eine Zeit lang auf der Redaktion des „Aargauer Tagblatts“ tätig und damit einer meiner liebenswürdigen Kollegen, von dem ich viel lokalgeschichtliches Wissen abzapfen konnte.
 
Nach seiner Darstellung wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den folgenden Jahren vielerorts Tierpärke eingerichtet, nachdem Wildtiere wie eben der Hirsch zu Seltenheiten geworden waren (und die Bürger auf den sonntäglichen Hirschbraten verzichten mussten). Deshalb wurden Hirsche wenigstens noch in Tiergärten gehalten, die in waldigen Gebieten ausserhalb der Stadtmauern angelegt wurden. Es gab fast keine Stadt von Bedeutung mehr, wo nicht die Frage erwogen wurde, einen Wildpark einzurichten (Beispiele: Wildpark St. Peter und Paul in St. Gallen, Langenthal BE, Zofingen AG usf.). Im Aarauer Roggenhausentäli liess sich problemlos solch ein Park einrichten.
 
Der Name Roggenhausen erinnert an den ehemaligen Steckhof des Wernher Meiier von Roggenhusen, es war also ein abgelegener Hof, der ursprünglich zu Niederentfelden gehörte, das 1411 zu Aarau kam. Ursprünglich soll es im Roggenhausen noch mehrere Häuser gegeben haben; im 19. Jahrhundert waren nur noch deren 2 vorhanden – „niedrig, ärmlich und mit tief herabgezogenem Strohdach“ (Erismann). Sie wurden nach und nach abgebrochen. 1875 entstand die heutige Roggenhausen-Wirtschaft (damals „Waldschenke“ genannt), eine heimelige, etwas dunkle Gaststätte, die heute auch über ein Gartenrestaurant (mit Selbstbedienung) verfügt und eine reichhaltige Speisekarte, auf Ausflügler-Bedürfnisse zugeschnitten, präsentiert.
 
Das Tal wird vom Roggenhausenbach, einem naturnahen, beim Restaurant verbauten Waldbach, durchflossen, der ebenfalls in die Aarauer Stadtgeschichte eingegangen ist: 1726 wurde er zum Teil zum Vorstadtbrunnen geleitet, um der Bürgerschaft zu gutem Trinkwasser zu verhelfen, bis dann die Schönenwerder Chorherren den Aarauern das Wasser auf dem Prozessweg wieder abstellten (1747). Manchmal kann der Bach richtiggehend wüten, wie ein Gedenkstein ans Unwetter vom 17.07.1963 beweist.
 
So entstand der Wildpark
Im Januar 1902 kamen einige Aarauer überein, auf dem Areal der Ortsbürgergemeinde Aarau im Roggenhausen einen „Wildgarten“ zu gründen, und ein neuköpfiges Komitee wurde beauftragt, dieses Projekt voranzutreiben. Noch bevor der Wildpark bereit war, importierte Dr. med. Heinrich Bircher, Direktor der Kantonalen Krankenanstalt, einen Damhirsch als Naturalgabe, schuf damit aber mehr Verlegenheit als Freude, denn man konnte ihn noch nicht brauchen. Also gab man das Tier dem Binzenhof-Wirt in Pension, und es ging als „Einsiedeler vom Binzenhof“ in die Tierparkgeschichte ein.
 
Aber vorerst mussten die Ortsbürger- und die Einwohnergemeinde im November 1902 noch zustimmen, was mehr als eine Formalität war, denn es hatte sich Widerstand gegen das „Luxusunternehmen zur Produktion von Hasenpfeffer und Rehbraten“ entwickelt. Zudem wurde eine Verschandelung des idyllischen Tälchens befürchtet. Doch der damalige Stadtammann Max Schmidt überzeugte die Aarauer Stimmbürger mit den Argumenten, das Werk diene über alle Nützlichkeit dem Schönen dieser Welt, erhöhe den Naturgenuss des Bürgers und erlabe dessen Seele. Der Jugend könne man nicht früh genug die Liebe zur Schöpfung und vorab die Liebe zum Tier ins Herz hinein pflanzen; genau dazu eigne sich ein Wildpark wie nichts anderes. Die Kostenbeiträge wurden bewilligt. Am 02.06.1903 war der Park bezugsbereit. Tiergeschenke belebten ihn: Wapitihirsche mit mächtigen Geweihen, die damals in keinen Tiergarten fehlten, Rothirsche, Rehe usw. Die Wiesen boten Äsung genug, und der Bach lieferte das Trinkwasser. Zudem gab es Schattenplätze, wenn die Lage zu heiss wurde.
 
Seither entwickelte sich der Park ständig. Ihm ist heute ein wirklich informativer Naturlehrpfad angegliedert, welcher die Geologie, Flora und Fauna an den Beispielen ausführlich erklärt. An 6 Standorten werden die Fels- und Lockergesteinschichten und ihre Entstehung, die Fossilien und die Einflüsse des Wassers kompetent beschrieben und durch Illustrationen veranschaulicht. Man kann mit Überraschung zur Kenntnis nehmen, wie in diesem Gebiet die Gesteinsunterlagen (Jurakalk und Molasseablagerungen) häufig wechseln und zusammen mit dem Wasserhaushalt verschiedenartige Lebensräume hervorgebracht haben. Man trifft Spuren des während der Risseiszeit (vor etwa 150 000 Jahren) aus Westen herangeflossenen Rhonegletschers und des Reussgletschers, der aus Südwesten kam. Zu ihnen gehören neben Schotterablagerungen auch ein Moor in der Doline („Möösli“, mit Kleinseggen und Orchideen) und ein Steinbruch. Der Wald erscheint in vielen Ausprägungen, etwa als Eibenwald auf Kalkfelsen (im Roggenhausen gibt es 280 Eiben) oder als Waldsimsen-Buchenwald bei der Doline. Umgekehrt dienen Pflanzen als Zeiger für örtliche Standortverhältnisse. So dienen der Mehlbeerbaum, der Elsbeerbaum, das Immenblatt, der Schwalbenwurz, der Bergthymian und die Stinkende Nieswurz als Kalkzeiger.
 
Ein Arboretum
1998 wurde von ProSpecieRara ein Obstgarten mit alten, bedrohten Obstsorten („Arboretum“) angelegt, in dem unter vielen anderen der regional bekannte Habermehler-Apfel eine Zuflucht gefunden hat; er wurde auch Wagnerapfel genannt und schon im 19. Jahrhundert beschrieben: Seine Herkunft wird auf einen Wagner in Buchs AG zurückgeführt, der ihn aus einem Samen gezogen hat. Dieser Apfel eignet sich gleichermassen als Tafel-, Koch und Dörrapfel. Andere Apfel-Raritäten: Aargauer Herren, Mägenwiler Klotzapfel, Buchser Rosen, Wölflisteiner, Kupplerapfel usf. An Birnen-Seltenheiten sind im Roggenhausen anzutreffen: Paradiesbirne, Gutzwiller, Hasenbirne, Gute Graue, und auch die blaue Entfelder Pflaume und Rot Zwetschge Birrwil wachsen hier, insgesamt 51 Sorten.
 
Zum Distelberg
Man kann auf diesem Weg weitergehen und den Planetenweg streifen und wird vom Jupiter, dem grössten Planeten des Sonnensystems, begrüsst. Durch die Waldgebiete Ischlag und Oberholz erreicht man innert 35 Minuten vom Restaurant Roggenhausen aus den Distelberg. Dabei ist der Wortbestandteil „Berg“ etwas gewagt. Mit seinen 432 Höhenmetern beim Strassen und Bahnübergang liegt er etwa 50 Meter höher als die Aarauer Altstadt. Dort ist eine AAR-Bahnhaltestelle. Die häufig verkehrenden Schmalspurzüge bringen den Wanderer zum Bahnhof Aarau oder tief hinein ins Suhrental, ganz wie’s beliebt.
 
Die Talebenen sind zwischen bewaldeten Hügeln eingebettet, die den Eindruck von Ruhe und Beschaulichkeit ausstrahlen und lehren, dass nicht nur zu jeder hektischen Stadt, sondern auch zu jedem Dorf nach den bescheideneren Aargauer Dimensionen ein Wald gehört. Auf dass man durchatmen kann.
*
Wildpark-Adresse
Wildpark Roggenhausen
Rathausgasse 1
CH-5000 Aarau
 
oder:
Monika Maurer
Herzogstrasse 38
CH-5000 Aarau
 
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