Textatelier
BLOG vom: 07.02.2011

Demonstrationen und Demontagen statt etwas Demokratie

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Eigentlich merkwürdig: Wer das Kürzel „Demo“ in den Mund nimmt oder in die Tasten haut, meint damit nicht etwa Demokratie (oder gar Demontage beziehungsweise Demoskopie), sondern Demonstration im Sinne von Massenkundgebung. Wie man diesem Sprachgebrauch entnehmen kann, spielen Demonstrationen eine wesentlich grössere Rolle als Demokratien. Und infolgedessen gibt es ein Demonstrationsrecht, aber kein Demokratierecht. Das Demonstrationsrecht ist die Folge der vielerorts vorhandenen Freiheit, seine Meinung ausdrücken zu dürfen. Dagegen ist nichts einzuwenden; denn Meinungsäusserungen sind ja auch wichtige Ventile, um den aus Unzufriedenheiten entstehenden Überdruck abzulassen, bevor es zu einem zerstörerischen Knalleffekt kommt.
 
Gegenüber einem Recht auf Demokratie, das man, gäbe es ein solches, den Menschenrechten zuordnen könnte, spielt das Demonstrationsrecht bedeutungsmässig eine eindeutig untergeordnete Rolle. Der Begriff Demokratie meint Volksherrschaft, die direkt (wie in der Schweiz) oder indirekt sein kann: das Volk wählt Vertreter, die stellvertretend entscheiden – und zwar, wie die Erfahrungen lehren – nicht immer im Sinne des Volks. Im Englischen bedeutet der Wortbestandteil crazy (von Demo-crazy) = verrückt, wahnsinnig ... Das Demonstrationsrecht seinerseits ist einfach ein Recht auf Meinungsäusserungen, die an sich unverbindlich bleiben. Doch wollen selbstverständlich auch Demonstranten politische Veränderungen erzwingen. Neuerdings geht es den demokratiefreien Ägyptern gerade darum, das während Jahrzehnten von den USA mit Milliarden gestützte Hosni-Mubarak-Regime zu entfernen. Ägypten wird als US-Bollwerk gegen Rest-Arabien und zum Schutz Israels, das sich auch über sein Grenzen hinaus frei entfalten darf, gebraucht – auch für US-Folterverhöre, von denen auch Barack Obama Gebrauch macht. Und das alles im Interesse von „God’s own country“ USA.
 
Demonstrationen, Folgen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit, kommen in verschiedenen Ausprägungen daher. Vorerst einmal wollen sie durch ihre Grösse beeindrucken, weshalb die Teilnehmerzahlen, wie sie von den Demo-Organisatoren angegeben werden, meistens wesentlich höher als die von der Polizei genannten Zahlen sind. So riefen die ägyptischen Oppositionellen zu einem „Marsch der Millionen“ auf, um die Botschaft der Strasse lauter zu machen. Wer hat sie alle gezählt, die in Kairo oder sonst irgendwo im Lande demonstrierten? Sie wollen eine sofortige und totale Veränderung und nicht den von den USA geforderten geordneten Übergang, der die Suche nach einem neuen US-Adlaten anstelle Mubaraks vereinfachen würde.
 
Besonders eindrücklich sind friedliche Demonstrationen, solche ohne jede Gewaltanwendung also. Ob sie auch wirksam sind, ist eine andere Frage. Allerdings besteht bei jeder Demo eine Eskalationsgefahr, was auch massenpsychologisch erklärt werden kann. Die Masse fühlt sich stark, und sie kann das Verlangen nach Beachtung, Geltung, Ehre stillen, ein Ausbruch aus der Untertänigkeit. Es ist wie in einem Konzert- oder Theatersaal, in dem einer mit dem Applaudieren beginnt, andere einstimmen, sich mitreissen lassen und am Schluss dann alle frenetisch und im gleichen Rhythmus klatschen, weil es ja alle anderen auch tun. Hier ist es Zustimmung, im anderen Fall aber Ablehnung – in Fussballstadien ist Platz für beide Varianten. Überall sind es Dirigenten, welche den Ton angeben, denn eine Masse (auch schon eine Gruppe, Meute) muss und will geführt werden, unterwirft sich vorgegebenen Parolen. Die Führer haben die Partitur im Kopf, können aber nicht wissen, ob ihnen die Masse früher oder später entgleitet. Wenn die Stimmung aufgeladen wird, wenn Wutausbrüche die Selbstbeherrschung verdrängen, kommt es zu Ausschreitungen und zu Straftaten, gegen die Polizei und Militär zwangsläufig einschreiten müssen. Schon Sitzstreiks und Blockaden, von denen Unbeteiligte in ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt werden können, sind unerlaubt. In solchen Fällen richtet sich die Staatsgewalt gegen die Bürger, und je nach Standpunkt werden Ursache und Wirkung anders wahrgenommen. Im schlimmsten Fall kann es zu bürgerkriegsähnlichen Situationen kommen.
 
Die Lösung, mit Demonstrationen fehlende demokratische Zustände kompensieren zu wollen, wird nie befriedigende Resultate zeigen. Protestkundgebungen sind ein Notbehelf, der mit der zunehmenden Marginalisierung der breiten Volksmassen durch den Prozess der Globalisierung, der einer auserwählten Schicht Geld und Macht zuschanzt, allerdings noch an Bedeutung zunimmt. Dazu tragen auch die visuellen Medien bei, die mit „Actions“ ihre Geschäfte (Auflagen und Quoten) bolzen und Volksaufstände, die ihnen in den Kram passen, hochspielen, andere aber vernachlässigen. Die Opfer finden sich vor allem im Volk, dem Treibsand im Spiel der Globalisierung, die alle Unrechtmässigkeiten vergrössert.
 
Zu Gegendemonstrationen kann es überall kommen, da ja selten eine ganze Bevölkerung ein und derselben Meinung ist. Das ist auch in Ägypten so, wo es auch zu Demos für Hosni Mubarak kam, an denen mehrere Tausend Personen teilnahmen. Auf dem Tahrirplatz in Kairo ritten diese auf Pferden und Kamelen heran und prügelten auf die Protestteilnehmer ein – Steine und Flaschen flogen. Man hört, das seien Leute zum Beispiel aus dem gigantischen Staatsapparat gewesen, die irgendwie von Mubarak profitieren. Wie das zögerliche Lavieren der USA und das Wehklagen aus Israel im Hinblick auf Mubaraks Ablösung zeigten, gibt es auch Positionen, die lieber ein korruptes Regime als eine ungewisse Zukunft in einem von den USA militärisch hochgerüsteten Land haben, in dem dann mehr linear einstimmige arabische Musik auf hoher Ebene gespielt wird.
 
So oder so: In Diktaturen und Scheindemokratien liegt das Vergnügen nicht aufseiten des Volks. Es darf sich prügeln, sich mit dem in den Augen fürchterlich stechenden Tränengas einnebeln, von Wasserwerfen bespritzen oder mit dem gefährlichen Gummischrott verletzen lassen. Das alles ist telegen. Die Masse der Verzweifelten darf ihre Statistenrolle spielen. Eines Tages wird sie nicht mehr demo-crazy, sondern des Demonstrierens müde sein. Die Medien verlieren ihr Interesse, und der Vorhäng fällt wieder. Bis zum nächsten Aufstand.
 
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