Textatelier
BLOG vom: 14.05.2011

John Rodrigo Dos Passos und das Experiment mit Luke

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
An den verdienstvollen amerikanischen Maler, Journalisten, Kriegskorrespondenten und Schriftsteller John Rodrigo Dos Passos, portugiesischen Ursprungs (14.01.1896–28.9.1970), erinnere ich mich nur noch vage, weil ich schon als 14-Jähriger ein aus Fragmenten bestehendes Werk von ihm las. Schade, dass ich dieses Werk nicht mehr in der kleinen Bibliothek meiner Eltern finden konnte. In diesem Sammelsurium benutze er experimentierfreudig eine Technik, die das Geschehen mit Zeitungsausschnitten, mit eigenen Erfahrungen oder Erlebnissen und solchen aus Bibliografien verband. Daraus entstand ein kurios burleskes, stichwortartiges Kaleidoskop, welches das Leben in Amerika realistisch im Boulevardstil aufs Korn nahm.
 
Ich ertappe mich erst jetzt dabei, wie ich, eigentlich unbeabsichtigt, da und dort in meinen Blogs ähnliche Versuche unternehme. Dabei greifen Paragrafen nicht immer wie Zahnräder im Getriebe ineinander über. Vielmehr nehme ich mir Freiheiten, aus den Schranken der erzählerischen Folge oder Chronik auszubrechen, Lücken zu hinterlassen, die vielleicht der Leser nach seinem Gutdünken stopfen kann. Das kommt eher selten vor.
 
Es ist ganz klar, dass ein Schreiber mutwillig Zwischenblenden und Rückblenden ins Geschehnis einfügen kann, die einzig den zeitlichen Ablauf, wenn man so will, auflockern. Auch Nebengeleise können dabei verfolgt werden. Sie führen in der Regel wieder in den Hauptverlauf der Erzählung ein. Diese Abweichungen sollten begründbar sein, denn sonst fällt der Handlungsverlauf auseinander, wird chaotisch. Aber dabei wird leicht übersehen, dass so viele Dinge auf dieser Welt chaotisch sind, von Zufällen abhängig. Als Autor ist man stets versucht, etwas Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen.
*
Luke, der Pechvogel
Luke wurde nach seiner Geburt in einer Telefonkabine, in ein Handtuch gewickelt, gefunden. Das Findelkind wurde mit dem Vornamen Luke, nach dem Evangelisten, ins Geburtsregister aufgenommen, mit dem Vermerk „Eltern unbekannt“.
 
Die ersten 4 Jahre verbrachte er im Kinderheim, bis er an Pflegeeltern abgeschoben wurde. Als Gelegenheitsdieb kam er immer wieder vors Jugendgericht. Als Erwachsener verrichtete er hin und wieder Handlangerdienste. Verlumpt, wie er war, wichen ihm die Leute aus dem Weg. Selbst als Bettler taugte er nicht. Im Kehricht durchwühlte er nach essbarem Abfall. Bei Regen übernachtete er in Telefonkabinen. Er werde eines Tages in einer Telefonkabine tot aufgefunden, vermutete man.
 
In Streatham, einem tristen Londoner Viertel, humpelte er am Stecken zum Vorplatz des Tesco-Supermarkts und setzte sich auf die niedrige Mauer neben dem Eingang. Er hatte einige Zigarettenstummel gesammelt und rauchte einen nach dem andern zu Ende.
 
Eine Räuberbande stürmte am helllichten Tag eine Bank. Es war ein bewaffneter Überfall gewesen, heutzutage kaum eine Zeitungsnotiz wert. Die Diebe flohen auf Motorrädern. Einer von ihnen sass auf der mit Banknoten vollgestopften Tasche und bog mit aufgedrehtem Gas in eine Einbahnstrasse, von einem heulenden Streifenwagen verfolgt. Er verfehlte die enge Kurve und schlitterte mit dem gekippten Motorrad über den Asphalt.
 
Niemand ausser Luke hatte gesehen, wie die Tasche unter ein parkiertes Auto ausser Sicht gerutscht war. Die Strasse war gesperrt. Der verletzte Räuber wurde auf der Bahre in die Ambulanz geschoben.
 
Hätte sich Luke einen Finderlohn sichern sollen? Stattdessen angelte er mit seinem Stock eine halbe Stunde später nach der Tasche und hing sie an seine Schulter. Auf dem Parkplatz leerte er die Tasche in einen Plastiksack und humpelte den Weg, auf dem er gekommen war, zurück. Unterwegs wühlte er gewohnheitsmässig durch Kehrichtkübel und stopfte essbare Reste in den Sack.
 
Diese teilte er mit einem halbzahmen Fuchs in der Abfallgrube hinterm Fussballplatz. Nachher vergrub er den Sack. Mit Geld konnte Luke nichts anfangen. Am nächsten Tag ging er seinen gewohnten Gang zur Mauer beim Tesco. Alle halbe Jahre wurde der Grubenabfall verladen und verbrannt – mitsamt dem Plastiksack.
 
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