Textatelier
BLOG vom: 22.05.2011

Ohne Garten: Pflanzen aus den Balkonblumen-Kisten

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Schon im März dieses Jahres richtete ich die Blumenkisten auf dem Balkon neu ein. Obwohl ich zuvor gelesen hatte, dass die Erde in solchen Behältern jedes Jahr ausgetauscht werden müssse, brachte ich es nicht übers Herz. Ich hatte den Inhalt auf den Boden gestürzt und sah die Verflechtungen der vielen Wurzeln. Die Erde sah aus, als ob sie zu einem grossen Keks gebacken worden wäre. In diesem überwinterten zähe Ableger verblühter Blumen und Gräser. Eindrücklich, wie sie sich in offensichtlich guter Zusammenarbeit arrangiert hatten.
 
Ich trennte etwa die Hälfte des kompakten Erdreiches weg, lockerte den Rest und füllte mit der speziellen Erde für Balkonkisten auf. Vergissmeinnicht, Akelei und Nachtkerzen, die 2 Frühlinge beanspruchen, um ihre Blüten zu entfalten, hatte ich sorgfältig herausgelöst und setzte sie in neuer Erde wieder ein. Den dicken Farnstamm griff ich nicht an, liess ihm seinen angestammten Platz. Er dankte es mir und schickte bald danach seine kleinen Kinder ebenfalls in die Welt.
 
Wenn ich jetzt auf dem Balkon sitze, sehe ich sowohl auf die Erde als auch auf jedes Pflänzchen, das sie hervorbringt. Sofort. Kaum hat es den Durchbruch ans Licht geschafft, kann ich es sehen. Diesen Blick habe ich nicht, wenn ich von oben herab auf meine „Wiese“ blicke. Es werden hier alle Gräser geduldet. Sie müssen keine Blüten hervorbringen. Wir freuen uns schon, dass sie die strenge Gerade der Balkonarchitektur auflockern.
 
Jetzt gerade beschäftigen sich mehrere Akelei-Stämme mit der Samenproduktion. Auch im nächsten Jahr wollen ihre Nachkommen hier aufwachsen. Diese Pflanze brachten wir vor etwa 20 Jahren aus dem Jura nach Zürich. Wir hatten sie auf dem „Schni“ in Rocourt (Kanton Jura) gefunden. Auf einem offenen Kehrichtberg, wie solche damals auf dem Land noch zulässig waren. „Schni“ steht für das französische Wort „chenil“, das aber „ch'ni“ ausgesprochen wird. Es bedeute „Hundezwinger“, erklärte mir ein Romanist, und daraus sei der Sinn von einem dreckigen, schmutzigen Raum oder eben von einem Abfallberg entstanden.
 
Es blühten gerade mehrere Nachkommen dieser Akelei, als uns Alex und Marianne hier besuchten. Es berührte sie sehr, dass dies Nachkommen der Akelei aus Rocourt seien, denn sie waren dabei gewesen, als wir sie ausgegraben hatten. Die beiden haben uns damals den Jura und seine Schönheit erschlossen. Nur weil wir diese Blume auf einem Abfallberg entdeckten, nahmen wir sie mit. Damals war sie nach unserem Wissen geschützt. Heute findet sie sich in manchen Gärten.
 
Und bald werden die Nachtkerzen, die sich in unseren Blumenkisten ebenfalls wohlfühlen, wieder jeden Abend aufgehen. Dies ist für uns die einzige Pflanze, der wir zuschauen können, wie sie sich öffnet. Immer zur Zeit des Sonnenuntergangs. Dann verströmt sie noch einen feinen Vanille ähnlichen Duft und dieser lockt dann sofort Nachtschwärmer herbei.
 
Die Nachtkerzen zeigen uns viel Kraft, wenn sie ihre Blätter wie ein Regenschirm öffnen. Normalerweise ist Wachstum ein sehr langsamer und für unsere Augen nicht sichtbarer Prozess. Die Nachtkerzen gehören zu den Ausnahmen. Sie dürfen uns diesen in beschleunigter Form aufzeigen. Und ihre Blumen, die aufspringen, sind für mich Zeichen von etwas Reifgewordenem. Etwas das Form bekommen hat und lebensfähig geworden ist. Vergleichbar auch mit der Geburt eines Kindes.
 
Wenn die Sonne am Untergehen ist, trägt sie die Erfahrungen des Tages in sich und somit in die Vergangenheit. Das Licht strahlt nochmals alle und alles an. Es ist eine Art Verklärung, die da stattfindet. Nie leuchten die Farben der Blumen so intensiv wie in diesen letzten lichtvollen Augenblicken. Alle Stunden des Tages sind jetzt gelebt. Es beginnt der Rückzug und das Zurechtkommen in der Nacht, im Übergang zu einem neuen Tag. Im übertragenen Sinne ist es der Augenblick des Alters, wo wir uns der Lebenserfahrungen bewusst werden.
 
In Norwegen habe ich ein Bild von Edvard Munch gesehen, das diese Erfahrung festhält. Munch hat sie zeitlich etwas später angesetzt. Von seinem Himmel leuchten schon die Sterne. Er nennt das Bild auch „Stjernenatt“ (Sternennacht).
 
2 Personen überblicken aus einer Anhöhe diesen Abschied. Das Sonnenuntergangsrot leuchtet noch. Es verliert sich in lindem Grün, bevor es von der blauen Stunde aufgesogen wird. In den Häusern der Stadt ist das Licht angezündet, und dieses trägt zur Stimmung des Augenblicks bei. Aber: Wer sich dort drinnen aufhält, wird die Sterne nicht sehen. Munchs Blick ist ergreifend. Licht, Farben und Dunkel setzte er so zusammen, dass wir in diese Abenddämmerung hineingezogen werden. So sah ich vielmals den Abend erlöschen, als wir noch im Bernoulli-Haus lebten und die Sommerarbende im Garten verbrachten.
 
Ich freue mich schon auf die Nachtkerzen, die erfahrungsgemäss ungefähr auf den längsten Tag hin erblühen. Ihnen dann wieder zuzuschauen, wird gut tun. Es sind jeweils Augenblicke, die uns abheben, uns mitnehmen in den zeitlosen Raum unserer geheimnisvollen Welt.
 
Hinweis auf ein weiteres Nachtkerzen-Blog von Rita Lorenzetti
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst