Textatelier
BLOG vom: 02.06.2011

Essen in Berlin: Ein Hauch von Köpenick im Sauerbraten-Duft

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Ein ebenerdiger Weinkeller mit deckenhohen Weinregalen, der als Geniesser-Restaurant beste Dienste leistet, ist in die Häuserflucht am Gendarmeriemarkt in Berlin installiert: „Lutter & Wegner“. In dem etwas düsteren Raum (Wein leidet unter Licht) liegen Hunderte von Flaschen in den Abteilen. Vor ihnen steht jeweils das Musterexemplar einer Flasche mit einsehbarer Etikette. Das nicht allein vor Rebensäften, sondern auch vor Geschichte triefende Haus wurde 1811 gegründet, also vor genau 200 Jahren. Walter Seifert, Mitorganisator der Reise zur Papierfabrik Leipa in Schwedt/Oder und nach Berlin, hatte damit eine ausgezeichnete Wahl getroffen.
 
Die Kombination von Restaurant und Weinhandlung ist alleweil erfolgsversprechend. Das Versprechen wurde eingehalten. Schliesslich gilt Berlin als Kulturstadt, die viele Touristen anzieht, weil sie auch ein neugeschichtliches Schaustück ist und diese Geschichte, wo immer möglich, 1:1 zelebriert. Gegen 9 Millionen Gäste verbrachten 2010 rund 21 Millionen Nächte (und wohl auch Tage) in der relativ neuen deutschen Hauptstadt. Davon, dass Berlin in den 1920er-Jahren die grösste Industriestadt Europas war, spürt man heute nichts mehr. Der Dienstleistungssektor mit der Kreativ- und Kulturwirtschaft und dem Fremdenverkehr hat sich hier etabliert, und die Biotechnologie, Medizintechnik, pharmazeutische Industrie, Medien/Informations- und Kommunikationstechnologie, Verkehrssystemtechnik, Optik sowie die Energietechnik spielen nur noch eine verhältnismässig marginale Rolle.
 
Das Konzerthaus
Kultur ist allerorten. Dementsprechend befindet sich direkt gegenüber dem weinseligen Gasthaus Lutter & Wegner das Konzerthaus, das 1818/21 errichtet wurde und ein Glanzstück klassizistischer Architektur ist. Der berühmte Architekt Karl Friedrich Schinkel übernahm den Säulengang des zuvor (1817) abgebrannten Langhans’schen Nationaltheaters und auch die Inneneinrichtung. Im Zweiten Weltkrieg brach, wie man sich leicht ausrechnen kann, eine Katastrophe auch über dieses Bauwerk herein, worauf es aus den Trümmern als Konzertsaal wieder aufgebaut wurde. Die Fassade wurde originalgetreu rekonstruiert, zu schade wäre es gewesen, die einstige Pacht vergessen zu lassen. Ein Figurenensemble mit Apollo, der schliesslich auch für sittliche Reinheit und Mässigung steht, gehört zu dem Prunkstücken der Fassade. Im Inneren gibt es weitere allegorische Darstellungen zu Theater und Musik und eine Bacchanten-Prozession, also von enthemmten Weinsäufern.
 
In unserer kleinen Gesellschaft, die sich auf der gegenüberliegenden Strassenseite etabliert hatte, ging hartnäckig das Gerücht um, dass der Sekt von „Lutter & Wegner“ erfunden sein soll. Auf der Webseite www.lutter-wegner.de liest es sich vorsichtiger: „Als traditionsreicher Sekthersteller setzen wir uns für einen verantwortungsbewussten Umgang mit alkoholhaltigen Getränken ein.“ Das passt zur erwähnten apollinischen Gesinnung. Behutsam degustierte (verkostete) ich den hauseigenen Sekt, der, wenn ich meinen eigenen Notizen Vertrauen schenken darf, viel Frucht, eine markante Säure und etwas angenehm in Erscheinung tretende Hefe enthielt. Infolgedessen sprachen wir auch dem anschliessend kredenzten Apérowein „Schloss Johannisberg(er)“ des Fürsten von Metternich aus dem Rheingau mit Bedacht zu, ein trockener Riesling (2009).
 
Der Leierkastenmann
Die gastliche Stätte war zur Charlottenstrasse hin geöffnet. Und dort positionierte sich der Leierkastenmann Manfred Grabowski, der von unserem Organisator Seifert speziell für uns aufgeboten worden war. Der Strassenmusikant ist eine aus dem Alt-Berlin herausgewachsene, ausserordentlich liebenswürdige Persönlichkeit. Seine Drehorgel, von der „Orgelbau-Manufaktur Stüber in Berlin“ geschaffen, ist mit Figuren in traditionellen Kleidern bemalt. Auf dem Instrument mit einer speziellen Schublade für die aufgerollten Lochkarten lag ein umgedrehter, grosser Hut als Behältnis für allfällige Spenden. Und der Orgeldreher selber fügte sich in diese Stilrichtung ein, trug ein hellbraun-graues, kariertes Jacket und ebensolche Knickerbocker, eigentlich das herkömmliche, nostalgische Wanderer- und Bergsteiger-Tenu, und er hatte sich eine lachsfarbene Fliege um den Hals gebunden. Die archetypische Schiebermütze mit extrem kurzem Vordach bestand aus dem gleichen Tuch wie die Kleidung und war wie diese von Frau Grabowski angefertigt worden, die eine Änderungsschneiderei betrieben hatte.
 
Die Sprache des Musikanten erinnere etwas an jene des Hauptmanns von Köpenick, fanden wir heraus. Aber natürlich würde niemand diesem Mann eine Köpenickiade zutrauten; der legendäre Hauptmann von Köpenick wurde durch einen spektakulären Überfall auf das Rathaus von Köpenick bei Berlin bekannt, in das er am 16.10.1906, als Hauptmann verkleidet, mit einem Trupp ergebener Soldaten eindrang, den Bürgermeister verhaftete und die Stadtkasse raubte. Ein merkwürdiger Zufall war es, dass ich erfuhr, dass sich die erwähnte Änderungsschneiderei ausgerechnet in Köpenick befand. Dieses Köpenick ist ein Ortsteil im Bezirk Treptow-Köpenick im Südosten von Berlin, am Zusammenfluss von Spree und Dahme.
 
Leierkastenmann Grabowski sagte mir, er liebe seinen jetzigen Beruf; früher sei er Elektriker gewesen. Und so ersetzte er denn gleich neben dem Konzerthaus das gesamte Berliner Orchester, das dort ja seine Spielstätte hat und manchmal auch neben dem Palast musiziert. Und alles, was bei Vogt-Schild AG im schweizerischen Derendingen (Kanton Solothurn, Wasseramt) und dem Recyclingpapier-Unternehmen Leipa in Schwedt D, die zur Exkursion eingeladen hatte, über Rang und Namen verfügte, übte sich in den Drehbewegungen, die sich in fröhliche bis schluchzend traurige, dann wieder aufmunternde Melodien verwandelten, einschliesslich der „Berliner Luft“, das Marschlied von Paul Linke und „Du bist verrückt, mein Kind“ aus Franz von Suppés Operette „Fatinitza“ (1876). Der Leipa-Innendienstleiter Carsten Krüger wurde speziell zum Drehen aufgeboten, eine Kunst, die er von den Papieraufroll-Vorrichtungen mit der Erfahrung des geübten Meisters glanzvoll bewältigte.
 
Das Menu vor den Weinregalen
Inzwischen hatte ein versierter und auf Gästewünsche eingehender Kellner das Rindercarpaccio mit Salat aus Apfel, Sellerie und Pekannuss aufgetragen. Die hauchdünnen, im Mund ohne eigenes, kauendes Zutun zerfallenden Fleischscheiben erstrahlten in einem so kräftigen Rot, wie ich es im Rindfleisch-Zusammenhang noch nie gesehen hatte. Das Geheimnis für diese kräftige Farbe blieb erhalten; auch die Druckindustrie kennt ja gewisse Farbmanipulationen. Der Sauerbraten mit Kartoffelpüree, glasiertem Spitzkohl und Rotkraut überzeugte, ein wahrer Genuss, typisch deutsche Küche. Dazu wurde uns ein roter Château Biré (2002, Cuvée spéciale pour Lutter & Wegner) von der Mähler-Besse SA in Bordeaux empfohlen, ein leicht nach Kirschen und Beeren duftender reiner Merlot, der wegen seiner etwas grüngrasigen Rustikalität sehr gut zum saft- und kraftvollen Braten passte. Der Kaiserschmarrn zu Zwetschgenröster (Kompott aus frischen Früchten) und Vanilleeis war die perfekte Nachspeise.
 
Bei Mutter Hoppe
Am nächsten Abend (28.05.2011) verpflegten wir uns dann im Gasthaus „Mutter Hoppe“ an der Rathausstrasse 21 in Berlin-Mitte. Aufgrund einer Speisekartenkopie hatten wir am Vortag unsere Menu-Wünsche bekannt geben müssen, eine vielversprechende, geradezu zeremonielle Vorbereitung. Mir, d. h. meiner persönlich komponierten Gerichtabfolge, war die Nummer 13 zugeteilt, die ich mir zu merken hatte. An irgendwelchen Formen von Glauben und Aberglauben leide ich wahrhaftig nicht. Aber diesmal war das Glück für einmal nicht so ganz auf meiner Seite. Denn bei der Bestellung am Vortag hatte ich noch nicht gewusst, dass es bei Lutters Rotkraut geben würde, und so entschied ich mich für eine Rinderroulade mit Kartoffeln und – eben – Rotkraut.
 
Nun aber war dieses neuerliche Rotkraut vom Herd der Mutter Hoppe derart mit Nelkenpulver überwürzt, dass ich es stehen lassen musste, obschon ich ein fein dosiertes Gewürznelkenaroma durchaus zu schätzen weiss. Die Rinderroulade ihrerseits war im Zerfall begriffen, und ausser einer Specktranche gelang es mir nicht, die Füllung zu identifizieren. Offenbar hatte diese Rolle etwas zu lange in der Hitze des Kochgefechts herumgestanden. Immerhin waren 2 der 4 Pellkartoffeln geniessbar; der Rest der Kartoffeln, denen die Brandenburger „Nudeln“ sagen, wie mich die liebenswürdige Leipa-Kommunikationsbeauftragte Manuela Gürtler belehrte, war matschig, passte konsistenzmässig irgendwie zur Roulade. Wegen des aufdringlichen Nelkendufts war ich froh, dass mein Teller mit den Resten bald einmal weggetragen wurde. Dass die Rote Landnelke als Symbol für den Sozialismus im Einsatz war, glaube ich weniger, auch wenn alle deutschen Grossstädte von SPD-Politikern regiert werden und das „Rote Rathaus“ von Berlin, ein beeindruckender Backsteinbau übrigens, die passende Farbe trägt. Seit 10 Jahren residiert Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) dort.
 
Als Vorspeise hatte ich „Kalbsleber mit Pfirsich überbacken“ bestellt, die bereits das Rinderstadium erreicht hatte, aber als solche doch recht gut und markant schmeckte. „Berliner Leber“ mit irgendwelchen Früchten ist schliesslich ein Element der herkömmlichen Kochkunst der Stadt. Wieso auf die Pfirsiche noch ein gummiartiger EU-Käse gelegt wurde, ist schleierhaft. Immerhin darf ich das Dessert loben: einen kleinen Eierkuchen (Crèpe) mit Waldfruchtsauce und Vanilleeis.
 
Der stämmige Kellner machte einen gestressten, nervösen Eindruck, musste er seine Körpermasse doch jedes Mal an einem herumstehenden alten Velo vorbeiquälen, das gleich neben dem Eingang zu unserem Verliess im Untergeschoss sinnlos bzw. zur Dekoration herumstand. Die Tellerinhalte wurden beim Service von jedem Gang ausgerufen, und der Besteller musste sich melden; nach Nummern wurde nicht gefragt, nicht einmal mehr nach meiner 13, die ihrem Ruf dennoch gerecht geworden war. Der Rotwein aus dem italienischen Montalcino wurde viel zu warm serviert; ich schätzte ihn auf 22 bis 23 Grad C.
 
Dem mit alten Berliner Fotos und dem Kopf eines röhrenden Hirschs an der Wand üppig dekorierten Haus namens „Mutter Hoppe“ halte ich zugute, dass hier noch weitgehend von Grund auf gekocht wird. Und schliesslich ging es darum, uns Schweizern die Luft einer typischen, volkstümlichen Berliner Kneipe in vollen Zügen atmen zu lassen, was vollauf gelungen ist. Im Raum nebenan leisteten 2 Stimmungskanonen mit Handharmonika bzw. am Klavier und am Bass Schwerstarbeit, wechselten von Gesängen über den schönen Rhein bis nach Oberkrain, was mir durch Steiermark und Bein ging, und auch die „Anneliese, ach Anneliese, warum bist du böse auf mich ...“ wurde nicht vergessen. Einiges Publikum sang und schunkelte mit, so weit die Platzverhältnisse seitliche Bewegungen zuliessen.
 
Wir befreiten uns bald einmal aus unserem Kellerlokal, die Wendeltreppe ersteigend, ins Freie mit den vor dem Aus-/Eingang betonierten Arkaden-Rundbögen, wohin das gastliche Haus ausufert; und grosse Portionen wurden auch hier, am Nikolaiviertel (Ostberlin), tapfer heruntergeschaufelt, als ob die Gäste den ganzen Tag über Braunkohle von Hand ausgebuddelt hätten.
 
Der Berliner Weisse
Auf dem Weg zum „relaxa“-Hotel kehrten wir zu einem Verdauungstrunk noch ins Café Stresemann am Anhalter Tor (Stresemannstrasse 90) ein, wo ich endlich die Bekanntschaft mit einem „Berliner Weissen mit Schuss“ machte. Er setzt sich aus einem jungen, leichten Weizenbier, das in der Flasche nachgärte, und etwas Waldmeistersirup zusammen, eine grünliche „Brause“, wie die Berliner solch einem Sprudelgetränk sagen, eine Art Panache – weder Bier noch Sirup, aber eben Berlin-typisch.
 
Berlin verfügt über eine Unmenge von Gaststätten, und so ist anzunehmen, dass das Passende für jeden Geschmack dabei ist – und alles scheint hier, in der ehemals geteilten Stadt, doppelt vorhanden zu sein. Doch gehört schon eine gehörige Portion Glück dazu, das Richtige zu finden, weit über das herzhafte kulinarische Erbe Berlins hinaus – hinein in die Welt des Kosmopolitischen.
 
Im nächsten Blog werde ich über den Deutschen Bundestag als Bauwerk und als Quelle der hysterisierten Energiepolitik im Jahr 1 nach Fukushima berichten. Deutschland, für die sprichwörtliche Gründlichkeit bekannt, will bald aussteigen. Ich aber bleibe dran.
 
 
Hinweis auf das vorangegangene Blog über die Reise nach Berlin und Brandenburg
01.06.2011: Leipa in Schwedt/Oder D: Die Weisswäsche des Bedruckten
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