Textatelier
BLOG vom: 05.11.2011

Martigny VS: Bunte Welt im Schussfeld von Steinschleudern

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Fast jeder kennt den Ortsnamen Martigny (deutsch und nicht mehr gebräuchlich: Martinach). Und kaum jemand, der ausserhalb des Kantons Wallis wohnt, hat den Ort je erkundet, abgesehen von Leuten, die von seiner kulturellen Ausstrahlung angezogen wurden.
 
Martigny liegt am grossen Rhoneknie, wo der Bergbach La Drance (Dranse) in diesen Fluss einmündet und das Schwemmland für den Aufbau von Martigny, eigentlich eine Ansammlung verschiedener Orte, bereitgestellt hat. Die Drance fliesst vom Grossen Sankt Bernhard bzw. Angroniettes-Gletscher herbei. Die 3 Orte sind:
 
Martigny-Ville
• Martigny-Bourg und
• Martigny-Combe.
 
Sie haben sich 1956 bzw. 1964 zusammengeschlossen und gleich auch noch La Bâtiaz einbezogen, bis 1956 eine selbständige Gemeinde, in welcher auf einem überhängenden Felsen aus brüchigem Marmor über der kanalisierten Dranse der runde Turm von La Bâtiaz steht, der Nachfolger eines kleinen römischen Wachtturms, der Bestandteil einer mittelalterlichen Festung an der wichtigen Verkehrslage war. Er diente einst als Zentrum einer Festung der Bischöfe von Sitten, die am Treffpunkt verschiedener Alpenübergänge ein Bollwerk gegen Savoyen schufen, und er wurde unter anderem von Andreas von Raron bewohnt. Heute ist er das Wahrzeichen von Martigny und eine Touristenattraktion.
 
Wurfmaschinen beim Turm von La Bâtiaz
Bei meiner Martigny-Exkursion vom 25.10.2011 unternahm ich von Martigny-Ville aus zuerst einmal den viertelstündigen Spaziergang hinauf zum Turm mit seinen 3,9 m dicken Mauern und zur ihn umgebenden mittelalterlichen Festung, um mir einen Überblick zu verschaffen. Der Wanderweg durchquert zuerst die gedeckte Holzbrücke von La Bâtiaz, die schon im 14. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Dammbau über die Dranse erwähnt wurde. 1818 zerstörte Hochwasser den Flussübergang, nachdem die Dranse aus der Trance erwacht war und den vom Glacier du Giétroz gebildeten Damm durchbrochen hatte. 1829 entstand eine neue, gedeckte Brücke mit einem Bogen aus Lärchenholz, die 1920 verstärkt und 1948 mit Fussgängersteigen ergänzt wurde. Sie ist übrigens die letzte im Gebrauch stehende gedeckte Holzbrücke des Wallis.
 
Alsdann spaziert man durch ein uraltes Quartier mit Bauten mit Stein-, Blech-, Ziegel- und Eternitdächern, die auf der Nordwestseite mit dem Fels verbunden sind. Der Weg steigt zuerst über ein asphaltiertes Strässchen und dann als Fussweg im Rebhang steil an. Tief durchatmen – und man ist bald bei der Festung, die vom „Verein für Gestaltung und Entwicklung der historischen Stätte La Bâtiaz“ sehr gut betreut wird.
 
Bei der Burg sind grosse Wurfmaschinen aus dem 12. bis 15. Jahrhundert aufgestellt, gross dimensionierte Weiterentwicklungen von Steinschleudern, wie sie im Mittelalter bei der Belagerung von Burgen eingesetzt wurden, um die dicken Mauern zu zertrümmern – wenn immer möglich. Mit den Katapulten liessen sich auch grössere Geschosse abfeuern. Die Wurfmaschinen nahmen gewaltige Ausmasse an: „Le Trébouchet“ war eine besonders gefürchtete, 16,5 m hohe Steinschleuder. Mit ihr konnten Belagerer bis zu 125 kg schwere Geschosse bis 220 Meter weit werfen. 50 bis 100 kräftige Männer waren nötig, um den gigantischen Hebelarm in Wurfposition zu spannen. Zudem ist eine 1,5 Tonnen schwere Riesenkanone ausgestellt, die bis zu 100 Kilogramm schwere Kugeln mit enormer Durchschlagskraft verschiessen kann. Die Burg selber war bei meinem Besuch gerade geschlossen, so dass ich die darin ausgestellten Folterinstrumente nicht sehen konnte – ich trug’s mit Fassung.
 
Immerhin ist von der Burg am Mont d’Ottan aus ein guter Überblick über den etwas wirren Siedlungsbrei von Martigny aus alten Gebäuden und Wohnblöcken und allem weiteren Zubehör wie Strassen und Bahnanlagen möglich – neben dem Dransekanal hinauf nach Martigny-Combe, wo sich die Überbauung allmählich auflöst und der Col de la Forclaz durch eine karge, gebirgige Landschaft nach Le Châtelard und ins savoyische Valée de l’Arve führt. Die kanalisierte Rhone ist von La Bâtiaz aus nicht zu sehen, fliesst hinter dem Berg, von dem aus ein Funkturm die Landschaft bestrahlt.
 
Unterschiedliche Restaurants
Um die Mittagszeit war ich aus der Vergangenheit in die Gegenwart von Martigny zurückgekehrt, umgeben von vielen Plakaten, die zum Besuch der Claude-Monet-Ausstellung einluden. Es war die Zeit zum Mittagessen, das ich zusammen mit einem Bekannten im Restaurant La vache qui vole an der Place Centrale 2b einnehmen wollte. Nachdem wir eine runde Eisentreppe erklommen hatten, wurden wir in der 1. Etage von einem Kellner, der mit uns in der englischen Sprache verkehrte (die Schweiz hat neuerdings 5 Landessprachen), auf 2 Tische hingewiesen, aus denen wir wählen konnten. Der Raum war nur schwach besetzt. Wir entschlossen uns für den Viertertisch am Fenster, durch das etwas diffuses Tageslicht den Gastraum erhellte. Nach einer gut 10 Minuten dauernden Wartezeit, als wir uns gemütlich niedergelassen und in aller Seelenruhe die Menukarte studiert hatten, kam der Servicemann wieder. Er fragte nicht etwa nach unseren Wünschen, sondern sagte, wir müssten an einen anderen Tisch wechseln, ohne diese Aufforderung näher zu begründen. Ich schlug vor, statt des Platzes gleich das Restaurant zu wechseln: „We don’t change the table, we’re changing the restaurant“. Mein Tischnachbar verlangte vorerst noch ein Gespräch mit dem Chef. Dieser erschien als eine ebenfalls verärgert anmutende Dame, deren Art mich etwas an den Rausschmeissertypus feministischer Prägung gemahnte und die ebenfalls kein Deutsch sprach. Auf Englisch wollte sie uns hartnäckig zum Platzwechsel animieren. So viel Unfreundlichkeit liessen wir uns nicht bieten, und wir verabschiedeten uns gleich. Die Chefin verschwand praktisch grusslos. Ist das die Schweizer Gastronomie, die unter dem starken Franken leidet? Oder ist ein Teil des Leidens vielleicht auf andere Ursachen zurückzuführen?
 
Unser eigenes Leiden aber war nur von kurzer Dauer, denn es erwies sich als ausgesprochener Glücksfall, dass wir uns nach Martigny-Bourg begeben hatten, dem altehrwürdigen, stimmungsvollen Marktflecken mit den alten Häuserzeilen französischen Gepräges. Wir kehrten im Hôtel des Trois-Couronnes an der Place du Bourg 8 ein, wo im ebenerdigen Speiseraum zahlreiche Leute lustvoll tafelten und sich unterhielten.
 
Das dreigeschossige, gastliche Haus steht an der Ostecke des zentralen Platzes. Vom ursprünglichen, spätmittelalterlichen Bau ist noch ein Rundturm erhalten, über dessen Portal das Wappen von Bischof Franz Josef Supersaxo (von Sitten) von 1731 angebracht ist, und ein alter Krieger mit Schweizerfahne grüsst von der gerundeten Fassade. Das Wappen zeigt die Initialen der Supersaxo-Devise „Wie Gott will“.
 
Wenn es solch einen alles bestimmenden Gott geben sollte, meinte er es in diesem Haus gut mit uns. Eine mollige, freundliche junge Dame mit einem schwingenden Röckchen bei den Rundungen im Taillenbereich erkundigte sich gut gelaunt nach unseren Wünschen. Weil gerade Wildsaison war, entschloss ich mich als ewiger Sünder, der sich sofort in die Gebräuche einer besuchten Gegend einlebt, deren Sitten übernimmt und nicht belehrend auftritt, für einen Gemsrücken an einer kräftigen, mit Preiselbeeren versüssten Sauce, Totentrompeten, Nudeln, Trauben sowie glasierte Kastanien, und mit dem Hebammenwein „Humagne rouge“ konnte man nicht viel falsch machen. Das war ein Festessen, und sogar das vierteilige Dessert auf Heidelbeersorbet-Basis überzeugte. Das Restaurant hatte rundum seinen welschen Charme – wir fühlten uns bei aller Einfachheit der Einrichtung wie einer Segelschiff-Bastelarbeit und Holzmalereien wunderbar aufgehoben.
 
Martigny-Bourg
Ein nachfolgender Verdauungsspaziergang durch den Ortsteil Le Bourg war unumgänglich und lohnenswert. Die Hauptstrasse hat ihren attraktivsten typischsten Teil auf der Höhe eines dreigeschossigen Längsbaus im italienischen Renaissancestil von 1645 in der östlichen Häuserzeile, der einst als Gefängnis mit Folterkammer, Ursulinerinnenkloster und eine Zeitlang als Gemeindehaus diente. Nachgotische Fenstergruppen und eine sechsachsige Säulenarkade sind seine Hauptmerkmale. Die benachbarten, zusammengebauten, nach südlicher Art dezent gefärbten Häuser mit den dekorativen Fensterläden sind malerisch. Der kompakte Ort ist durch die Wälder am Mont Chemin vor Lawinen geschützt. Holzschlag war hier früher unter Strafe verboten ... „d’avoir le poing droit coupé avec infamie et de soixante livres d’amende“.
 
Dummerweise schaute ich noch in die Chapelle Saint Michel (1649) mit dem eingegliederten Turm hinein. Das Altarbild zeigt einen der mehreren heilig Gesprochenen namens Michel mit verklärtem, nach oben gerichteten Blick, wie er gerade einem Schwarzen Mann mit kleinen Hörnern sein Schwert in die Halsschlagader rammt und in der anderen eine Handwaage hält – Gerechtigkeit nach ehemaligem biblischem Verständnis, eine ekelhafte Darstellung, geschaffen von einem Maler namens Albert Chavaz. Eine Auswirkung des Christus-Worts in Lukas 19:27: „Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder!“ Vor der Kapelle war einst eine Gerichtsstätte, und so war man sich hier allerhand Brutalitäten gewohnt. Das Altertum und das Mittelalter konnten auch grau und grausam sein.
 
Regionalprodukte von Gilles
Martigny-Bourg war lange Zeit der Ville (Stadt) an wirtschaftlicher Bedeutung überlegen; zwischen den beiden Ortsteilen gab es einen harten Konkurrenzkampf, wobei die Märkte in Bourg, die eine starke Anziehungskraft hatten, die Bedeutung des Orts erhöhten. Eine Ahnung davon erhielt ich in der Fromagerie/Épicerie/Produits du Terroir an der 15 rue du bourg in der Nähe des Gemeindehauses. Der kleine, gut assortierte Laden weist auf die agrikole Vergangenheit des Orts hin. Ein äusserst kundenfreundlicher, fröhlicher Verkäufer namens Gilles erklärte geduldig seine Käsespezialitäten, die aus der Umgebung und zum Teil auch aus Savoyen und dem Kanton Freiburg (Greyerz) stammen, ebenso die Joghurts von der weissen Milch von schwarzen Kampfkühen aus Hérens oder solche aus Schafmilch. Eine weitere Entdeckung war die Wucht eines Tomme Savoie, der von käsiger Würzigkeit ist und als Starkstrom unter seinesgleichen bezeichnet werden muss. Der Verkäufer beschriftete meine Einkäufe auf den Packungen mit den Käsenamen. Und als ich den heimeligen Laden verlassen hatte und ein Stück des Wegs gegangen war, rannte mir Gilles mit einer halb-salzigen französischen Butter in einem Spanplattentöpfchen („Échiré“) nach, die er mir unbedingt noch schenken wollte.
 
Danke Gilles, danke Martigny für dieses Wechselbad der Gefühle. Besuche im Wallis sind immer anregend, rütteln durch. Meine Erinnerungen an die sind bunt wie ein Bild aus dem Impressionismus.
 
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