Textatelier
BLOG vom: 18.04.2012

Der Liebeszwiespalt – vom ersten bis zum letzten Tanz

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Eugen und Alexandra teilten oft den Heimweg von der Hochschule, da sie im gleichen Quartier wohnten. Die Abschlussfeier der Absolventen des Studiums stand bevor, und Eugen fragte Alexandra, ob sie als seine Gefährtin an der Feier teilnehmen möchte. Verlegen und errötend gestand sie ihm, dass sie seine Einladung leider ausschlagen müsse, da sie sich demnächst mit André verloben werde.
 
Eugen war mit André befreundet, und André hatte bisher seine Liebesbeziehung mit Alexandra mit keinem Wort angetönt. Eugen schätzte Alexandra als eine Kameradin. Ihr Frohsinn erheiterte ihn. Ehe sie ihre elterlichen Wohnungen aufsuchten, plauderten sie jeweils ein Weilchen miteinander. Zwar nahm er ihren Liebreiz wahr, doch lud er sie kein einziges Mal zu einem Treffen ein. „Natürlich verstehe er, weshalb sie seine Einladung nicht annehmen könne“, sagte Eugen, kaum nennenswert von ihrer Absage betroffen, und fand bald Ersatz für sie.
 
Einige Tage später sprach ihn André an: „Es tut mir leid, dass ich Alexandra gekapert habe, aber ich bin sicher, dass dich ihre Absage aus verständlichen Gründen nicht gekränkt hat.“
 
„Ganz und gar nicht“, versicherte ihm Eugen leichthin und beglückwünschte ihn zu seiner bevorstehenden Verlobung.„Wir beide möchten dich, zusammen mit einigen Freuden, dazu einladen – du darfst uns keineswegs fehlen!“
 
„Einverstanden und gern“, nahm Eugen die Einladung an.
 
Die Abschlussfeier nahm ihren fröhlichen Verlauf. Sogar der sonst eher steife Lehrkörper gab sich jovial gelockert. Das Buffet war lecker angerichtet. Wein wurde eingeschenkt. Eugen nahm ebenfalls heiter am Anlass teil und tanzte abwechselnd mit etlichen Mädchen. Es gehöre wohl zum guten Ton, dass er auch Alexandra zum Tanz bitten sollte, ging ihm durch den Sinn. „Diesmal darfst du mir keinen Korb geben“, sprach er sie keck an. Wie beschwingt sie tanzte! Wie federleicht sie in seinen Armen lag! Welche Wonne!
 
Er geleitete sie zu ihrem Platz neben André zurück.
 
„Du siehst mir gewiss nach, dass ich diesmal Alexandra zu einem ersten und einzigen Tanz gekapert habe“, wandte sich Eugen schmunzelnd an André.“
 
„Be my guest!“ schickte ihm André ahnungslos nach.
 
Eugen begegnete Alexandra kurz später nochmals beim Buffet und reichte ihr ein Glas Wein.
 
„So haben wir unseren ersten und einzigen Tanz gehabt …“, bemerkte sie leise mit belegter Stimme.
 
Eugen gönnte sich nach all den Strapazen des Studiums, zusammen mit Freunden, worunter auch André, eine Ferienwoche in einem südlichen Küstenort. Abends klopften sie verschiedene Bars und Diskotheken ab, ganz wie es Brauch unter Junggesellen ist. André hielt wacker mit. „Das ist wohl meine letzte Eskapade“, wandte er sich eines Abends – es klang fast wie eine Entschuldigung – an Eugen. „Es steht uns eine lange Verlobungszeit bevor.  Alexandra und ihre Eltern bestehen darauf.“
 
„Das mag wohl richtig und angemessen sein“, meinte Eugen lakonisch und offerierte André ein Bier.
 
Nach seiner Rückkehr begann Eugen seine Stellensuche. Einige Tage vor der Verlobung zwischen Alexandra und André hatte er eine Stelle im Ausland angenommen und freute sich auf eine Luftveränderungen, abseits der elterlichen Obhut. Nur eines gab ihm zu schaffen: Warum ging ihm Alexandra nicht aus dem Sinn? Das ist lächerlich und abwegig, warf er sich vor, von einem einzigen Tanz ausgelöst. Es war eine aussichtslose Fixation, die sich in ihm festhakte und nicht verdrängen liess.
 
Der engere Freundeskreis der „Unabhängigen“, Mädchen und Jünglinge, hatte sich zur Verlobungsfeier in einem gediegenen Hotel eingefunden. Normalerweise wird eine Verlobung im engsten Familienkreis gefeiert. „Es soll zugleich eine Nachfeier unserer Studienzeit sein“, vermerkten André und Alexandra auf ihrer Einladungskarte. André war auf einen opulenten Lebensstil eingespielt, dank seinem Vater, der eine hohe Position in einer Bank bekleidete. So blieb er von der Stellensuche verschont und hatte Unterschlupf in der väterlichen Bank gefunden. In anderen Worten: Sein Brötchen war jetzt schon gebacken.
 
Kaum waren die Verlobungsringe, für Alexandra ein hochkarätiger Diamantring, ausgetauscht, hielt Andrés Vater eine kurze Tischrede, und er erhob das Glas zum Wohl der Verlobten. Natürlich blieb die dem Paar eingeräumte Bedenkzeit unerwähnt. Aber das alles hatte nichts mit ihm zu tun und blieb Privatsache zwischen den Familien. Jung und Alt genossen, mit einer oder vielleicht sogar 2 Ausnahmen, voll und ganz das Verlobungsfest. Alexandra sass neben André, Eugen gegenüber. Die Platzkarten hatte es zufällig so eingerichtet. Die Geladenen sassen rund um einen riesigen Tisch versammelt. Einige von Andrés Freunden waren zur Tanzmusik aufgeboten.
 
Aber vorderhand hatte die Konversation am Tisch den Vorrang. „Eugen, hast du schon eine Stelle gefunden?“ sprach ihn André über den Tisch hinweg an.
 
„Ja,“ bestätige Eugen, „in 3 Wochen trete ich sie im Ausland an – in Spanien, genauer in Madrid.“
 
Alexandra hatte aufgemerkt und fügte hinzu: „Ich bin noch immer stellenlos.“
 
„Nicht mehr für lange, Liebling!“ versicherte ihr André, „ein zwischenzeitlicher Posten ist für dich bald gefunden!“ Das war prahlerisch hingeworfen. Damit liess André durchblicken, dass ihr eine wichtigere Rolle in ihrem, will besagen in seinem Leben, vorbestimmt war. Dabei legte er seine Hand auf ihre. Sie war jetzt schon sein Besitztum. Er verfügte über sie. Alexandras Augen blieben auf den Teller gerichtet. Ihr einstiger Frohsinn schien gedrosselt zu sein. Plötzlich erhob sie sich und verliess den Saal. Gefasst lächelnd erschien sie wieder nach einer Viertelstunde.
 
„Jetzt geht’s los,“ meldete sich eine Stimme übers Mikrofon. „Höchste Zeit!“ bemerkte sein Tischnachbar und stand als Erster auf. „Warte“, zupfte ihn Eugen am Ärmel, „der Tanzboden gehört zuerst den Verlobten.“
 
Kaum hatten André und Alexandra die Tanzfläche betreten, lud André mit gebieterischer Armbewegung alle auf, den Tanzboden mit ihm – und vergass dabei das Wörtchen ‚uns’ – zu teilen, „denn hier gibt es keine Zeremonie!“ Eugen blieb sitzen. Auch nach der Tanzpause blieb er an seinem Platz kleben. Als André und Alexandra wieder ihre Plätze am Tisch einnahmen, ermunterte ihn André zum Tanz mit Alexandra. „Vielleicht verdient sie eine Verschnaufpause,“ schlug Eugen vor.
 
„Ach wo! Du hast wohl nichts dagegen, oder?“ wandte sich André an seine Verlobte.
 
„Gewiss nicht“, versicherte sie ihm und erhob sich hurtig.
 
So ist dein letzter Tanz mit mir doch nicht der letzte geblieben“, sagte sie wie zum Spass.
 
„Ich wünschte, es gäbe keinen letzten mit dir“, liess sich Eugen zur Antwort hinreissen.
 
„Wie meinst du das?“
 
„Das ist mir einfach so dumm heraus gerutscht“, entschuldigte er sich.
 
„Hast du es anders gemeint?“
 
„Ich habe dies als Kompliment gemeint“, wich Eugen ihrer Frage aus.
 
„Vielleicht sehe ich dich noch einmal, zum letzten Mal, vor deiner Abreise?“
 
„Noch so gern“, antworte Eugen beherzt. „Einmal ist keinmal …“
 
Ehe der Tanz vorbei war, hatten sie das Kunstmuseum zum Treffpunkt gewählt. Ihm schien, sie habe ihr wahres Lächeln wieder gewonnen. Und er auch!
 
Während der nächsten 2 Wochen plagte und wühlte ihn der  Zwiespalt mehr und mehr auf, bald beseligend, bald zutiefst quälend. Alexandra liess ihn nicht los. Was hatte sie zu diesem Stelldichein bewogen?
 
Lange sassen sie sich im Museumscafé schweigend gegenüber. „Wie kommt es, dass wir uns hier treffen, jetzt, nachdem deine Flügel gestutzt sind und dein Diamantenring glitzert und mir zu spät aufgegangen ist, dass ich mich hoffnungslos Kopf über Hals in dich verliebt habe? Was hat dich, uns, zu diesem Rendez-vous veranlasst?“
 
„Ich war verblendet, bezirzt vom Reichtum, der sich wie ein Palast vor mir auftat – und fühle mich jetzt hoffnungslos im golden Käfig gefangen“, äusserte sie sich zögernd und fuhr fort: „Die ersten Zweifel überfielen mich nach und nach, als du mich als deine Gefährtin zur Abschlussfeier eingeladen hast. Ich war überrascht.“
 
„Und wie kam es zur einjährigen Bedenkzeit?“ forschte Eugen.
 
„Erst im allerletzten Augenblick, als er mit seinen Freunden Ferien im Süden machte, ausgerechnet im Land meiner Vorfahren, erwachten meine Zweifel. Hatte er mir bloss eine Nebenrolle in seinem Leben zugedacht?“
 
Eugen unterbrach sie: „Zur Zierde und als Statussymbol – eine Vernunfthochzeit?“
 
Alexandra nickte und fuhr fort: „Die Verlobung stand fest, doch nicht die Hochzeit … Ich hatte mir diese Bedenkzeit ausbedungen und meine Eltern pflichteten zögernd bei, besonders mein Vater sperrte sich dagegen. Er wollte, dass seine einzige Tochter, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, in die Prominenz aufsteige. Ich suche nach einem Rettungsanker aus meinem Zwiespalt und die Rückkehr in meine persönliche Freiheit, der Ehe entbunden, ehe ich festgenagelt bin. Missverstehe mich nicht: Ich will dir nicht die Rolle als meinen Rettungsanker aufbürden. Aber vielleicht kannst du mir raten, hoffentlich.“ Nach einer weiteren Pause, gestand sie: „Auch ich bin in dich verliebt!“
 
Eugen schwieg nach ihrem Geständnis betroffen und sprach endlich: „Du hast den Weg zur Freiheit von selbst gefunden. Wir beide sind in Liebesdingen unerfahren, aber stecken jetzt im gleichen Boot, ganz unerwartet von der Liebe überfallen. Dagegen können wir nichts tun. So lasst uns wenigstens gemeinsam rudern, um das rettende Ufer zu finden, wo sich das Boot verankern lässt. Was nachher mit uns geschieht, das wird sich weisen. Nur darfst du den Mut nicht verlieren. Ich stehe zu dir.“
*
Alles fügte sich schliesslich, gewiss nicht reibungslos. Alexandra löste die Verlobung auf. Nach 6 Monaten siedelte zu ihm in Madrid über und fand eine Stelle in einer Reiseagentur. Sie tanzten, herzten einander, lachten viel und zankten manchmal. Der Zwiespalt war ausgelöscht.
 
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