Textatelier
BLOG vom: 24.04.2012

Wanderung auf die Geissflue mit diversen Lungentherapien

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Klinik Barmelweid, oberhalb von Erlinsbach AG/SO in die Jurawaldungen eingebettet, ist zu einem regelrechten Spital- und Pflegekomplex ausgewachsen. Sie wurde am 30.06.1912 eingeweiht, ist also 100 Jahre alt, und war ursprünglich auf die Behandlung von Tuberkulose-Patienten ausgerichtet. Da ja auch das Krankheitsgeschehen gewissen, nach allen Seiten ausufernden Modeerscheinungen unterworfen ist, entwickelte sich die auf Aargauer Boden gelegene Barmelweid (www.barmelweid.ch) zu einer Spezialklinik für Kardiologie (Herz und Kreislauf), Pneumologie (Lungenkrankheiten), Psychosomatik (aus der Psyche herausgewachsene Krankheiten) und Schlafmedizin. Auch daraus ist zu erkennen, dass die Medizin nicht schläft. Für den Fall, dass sich aber dennoch einmal ein Schlafbedürfnis einstellen sollte, wurde im Sommer 2006 das Hotel „Geissflue“ in Betrieb genommen, und im Sommer 2011 kam ein Pflegezentrum hinzu, nachdem das Laurenzenbad (Landeskarte: Loränzebad) den Aufstieg nach oben und hinein in die Barmelweid gewagt hatte. Motto: „Gepflegt gesund werden.“ Auch die Barmelweid-Infrastruktur ist und wird sehr gepflegt. Bei meiner Juraexkursion vom 17.04.2012 waren gerade Angestellte einer Schriftenmalerei dabei, die Hinweis-und Orientierungstafeln mit Seifenwasser zu schrubben.
 
Wanderung zur Geissflue
Der Hotelname Geissflue ist nicht etwa an den Haaren herbeigezogen, sondern er ist ein Plagiat des Namens des gleichnamigen Jurahügels oberhalb der Barmelweid. Um meinem Herzen, der Lunge und der Psyche Gutes zu tun und abends danach herrlich schlafen zu können, hatte ich mir eine Wanderung auf eben diese Geissflue vorgenommen. So fuhr ich von Erlinsbach (Nähe Aarau) auf der Salhofstrasse durchs Rotholz auf die 779 m ü. M. gelegene Salhöhe (Salhöchi) hinauf, wo eine gut ausgebaute Strasse nach links (Südwesten) zur Barmelweid abzweigt. Neben der Strasse gibt es hinreichend Parkplätze. Um möglichst schnell in den Genuss des beschaulichen Wanderns zu kommen, wählte ich den ersten und steuerte der Klinik zu Fuss entgegen, die übrigens von Aarau aus auch durch den Busbetrieb Aar bedient wird.
 
Da ich die freie Natur jedem Klinikaufenthalt vorziehe – eine Kuriosität von mir –, kehrte ich auf der Höhe des Eingangs dem Spitalbetrieb den Rücken zu und folgte auf der entgegengesetzten Strassenseite dem gelben Wanderwegweiser Geissflue. Der Weg sei in etwa 40 Minuten hinzukriegen, entnimmt man ihm. Zuerst geht es steil aufwärts, zeitweise über Treppen, wie sie manchmal Waldwege ersetzen. Dann erreicht man bald einmal das üppige Forststrassennetz, und das Wandern wird zum Spaziergang. Frühblühende Waldblumen waren bereits ins Kraut geschossen: Buschwindröschen, Akelei, Schlüsselblume und selbstredend auch das Gefleckte Lungenkraut (Pulmonária officinális L.) mit seinen lungenförmigen Blättern, das nährstoffreiche Kalkböden in Laubmischwäldern in der Nähe eines Lungensanatoriums zu schätzen weiss – gewissermassen als Aussenstation der Barmelweid-Pneumologie. Der Bärlauch färbte ganze lichte Waldabschnitte grün ein, und der Waldstorchschnabel mit seinen handförmigen Blättern stand in voller Blüte aufrecht da. In einem trostlosen, dunklen Waldabschnitt diskutierte gerade eine Versammlung von Fichten, die im unteren Teil dürr wirkten, darüber, ob vielleicht der Begriff „Waldsterben“ auf solche forstwirtschaftlich angelegte Monokulturen zurückzuführen sei. Die Vermutung schien sich zu erhärten.
 
Abseits dieses waldbaulichen Ausrutschers brachte die Sonne ihr Licht und den lockeren Wald ein, und es erstaunte mich, dass angesichts der Grösse des nahen Spitalbetriebs hier nicht ganze Völkerwanderungen anzutreffen waren, die ihrer Lunge und ihrem Kreislauf Gutes tun wollten. Nur gerade ein humpelndes, freundliches Ehepaar war mir nahe bei der Klinik entgegen gekommen; vor allem der Mann schien sich das Gehen wieder mühsam antrainieren zu müssen. Und auf dem Weg lag ein Aufgebot im Visitenkartenformat, den eine Frau M. verloren hatte, die sich um 16.15 Uhr zu einer Konsultation bei ihrem Therapeuten Buchli in der Station Ost 1 einfinden musste. Aus der Geschichte der Heilanstalten im Jura ist bekannt, dass der Stall-Luft eine heilende Wirkung bei Lungenleiden zugeschrieben wurde ... und diese findet man eher in Häusern drinnen als im Freien.
 
Dann kam es noch zu 2 Begegnungen mit wanderlustigen Altherren: Oben auf der Geissflue traf ich einen rüstigen, 83-jährigen Erlinsbacher, früher ein begeisterter Velofahrer, der inzwischen seinen Bewegungsdrang beim Wandern los wird, wie er erzählte, wenn er nicht gerade den Haushalt in Ordnung bringen muss. Und auf dem Rückweg begegnete ich einem ortskundigen Pensionär mit Teleskopstock aus Leichtmetall, der mir von den Besonderheiten dieser Gegend erzählte.
 
Fantasiereich geformter Jurakalk
Zu diesen Besonderheiten und mir bereits lieb gewordenen Werten des Juras als eigenständiges, rund 200 km langes Mittelgebirge gehören die zu bizarren Formen verwitterten Stein-Bruchstücke aus den Molasseablagerungen aus dem Tertiär, jener Zeit vor mehr als 2,6 Millionen Jahren also, in der sich im subtropischen Klima die heutige Pflanzen- und Tierwelt zu entwickeln begann. Vorher waren die ausgedehnten Kalkflächen kaum von Vegetation bedeckt gewesen, so dass die Verwitterung ungestört ihr Werk vollbringen konnte.
 
Die beispielsweise bei Waldstrassenbauten freigelegten rauen Jurasteine sind unregelmässig und entsprechend fantasievoll geformt, haben also keine Ähnlichkeit mit Geröll, das sich bei der Bewegung gerundet hat. Wäre ich ein Paläontologe, hätte ich einen keilförmigen Stein, den ich am Wegrand auflas, eindeutig als behauenes, beilartiges Spaltwerkzeug mit scharf schneidendem Rand, allenfalls als Faustkeil, aus der Latènezeit, als die ersten geschichtlichen Völker das Mittelland und den Jura in Beschlag nahmen, identifiziert und daraus auf steinalte menschliche Besiedlungen geschlossen. So aber behielt ich die Sensation für mich, ebenso wie den Fund eines etwa 6 cm langen Steins, der ans Pferd (Springer) erinnert, wie man es beim Schachspiel herumhüpfen lässt. Der Jura diente später als Durchreisegebiet und schliesslich als Kur- und Wandergebiet, ohne dass er eine vorrangige Bedeutung erreicht hätte. Deshalb ist es in den Jura-Weiten und -Wellen immer noch so einsam, ruhig und erholsam. Und an markanten Aussichtspunkten besteht kein Mangel.
 
Die Rohrerplatte
Ein Aussichtspunkt und eine geologische Attraktion in einem ist die Rohrerplatte, ein attraktiver Bestandteil des Faltenjuras, der ja alle erdenklichen Kapriolen trieb und auch Abstürze im Programm hat. Die Rohrerplatte breitet sich am Wanderweg zur Geissflue aus und dient als Aussichtspunkt auf einem steil zum solothurnischen Rohr abfallenden, grau-braunen, vertikal und horizontal zerrissenen, mehrere Meter hohen Felsen. An der Oberfläche tritt der mergelschiefrige Kalk, wie ihn die Zementindustrie zu schätzen weiss, als in kleine Würfel zerrissene Platte in Erscheinung, die gegen den Absturz leicht abfällt, ein Mosaik, stellenweise von Pflanzengrün belebt. Sie befindet sich auf 932 Höhenmetern und ist von dichten Buchenbeständen in Windpeitschenform flankiert, ohne die Aussicht zu stören. Von hier blickt man direkt auf die Dächer des kleinen, landwirtschaftlich geprägten und von vielen Obstbäumen umgebenen Dörfchens Rohr im Bezirk Gösgen am Südfuss des Juraübergangs über die Schafmatt nach Oltingen BL hinunter. Rohr hat nur knapp 100 Einwohner. Der Blick wandert weiter über die hügelige Landschaft, die gegen das Aaretal zunehmend intensiver überbaut wird, nach Lostorf und Gösgen mit dem dampfenden KKW-Kühlturm, dessen Fahne auf einen nur schwachen Wind schliessen liess. Nach Osten und Westen setzt sich der Faltenjura fort. Er verschwand bald einmal im leichten Dunst.
 
An vielen Stellen stehen grosse Grenzsteine (wie einer mit dem Solothurner Wappen von 1834) im lichten, durchfeuchteten Wald, ist hier doch der Verlauf der Kantonsgrenzen nur für versierte Geografen genau auszumachen. Die Kantone Aargau, Basel-Landschaft und Solothurn scheinen im Geissflue-Gebiet um jeden Quadratmeter gerungen zu haben. Auf der nur noch 31 Meter höher gelegenen Geissflue (963 m) verläuft die Grenze Basel-Landschaft‒Solothurn, wie von Grenzsteinen abzulesen ist, und ein nordöstlicher Nebengipfel, zu dem der Aargau vordringen durfte, ist mit seinen 908 m der höchste Punkt dieses Kantons.
 
Auf der Geissflue
Der Weg von der Rohrerplatte auf die Geissflue, also von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt, ist unbeschwerlich, anspruchslos (5 Minuten). Der Aufwand hätte sich gelohnt, selbst wenn er viel grösser gewesen wäre: Hier oben öffnet sich das Landschaftsbild in den Ketten- und Faltenjura hinein, nordwärts in den Tafeljura und Richtung Hochrheintal und Schwarzwald. Direkt unter dem fast senkrecht abfallenden Felsen ist die Schafmatt; die Höhendifferenz dorthin beträgt 150 bis 200 m.
 
Eine rote Sitzbank lädt auf der Geissflue zum Ruhen, Schauen und Philosophieren ein, zum Beispiel über Geissen (Ziegen), die der Flue (Felsabbruch) den Namen gegeben haben. Sie gelten als eigenwillige Tiere und haben das Talent, selbst an steilen Felswänden nicht abzustürzen. Dasselbe gelang mir ebenfalls, und ich fand körperlich unversehrt zum Parkplatz bei der Barmelweid-Klinik zurück. Ich brauchte ihre Dienste nicht in Anspruch zu nehmen.
 
 
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