Textatelier
BLOG vom: 31.05.2012

Wettingen: Begegnungen im klösterlichen Brückenquartier

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Grubenmann. Immer wieder begegne ich diesem Namen, wenn mich irgendein Bauwerk angezogen hat, nicht nur in der Ostschweiz und insbesondere im Appenzellerland, dem Stammsitz der Grubenmann-Dynastie, sondern auch in der übrigen Schweiz wie in Bischofszell TG, Schaffhausen (diese Brücke gibt es nicht mehr) usf.
 
Als ich am 26.05.2012 wieder einmal einen Rundgang innerhalb der Wettinger Klosterhalbinsel unternahm, staunte ich, als ich bei der gedeckten Holzbrücke über die Limmat dem Namen Grubenmann begegnete. Dieser Brückenbau verbindet den Klosterbereich mit dem Neuenhofer Ufer und ist ein Bestandteil des Kulturpfads LimmatWasserschloss. Eine Informationstafel lehrt, dass an dieser Stelle einst eine Fähre die Limmatüberquerung ermöglichte. 1764 beauftragte der Abt des angrenzenden Klosters Hans Ulrich Grubenmann aus dem Appenzellischen Teufen AR mit dem Bau einer 61 Meter langen Holzbrücke, der 1765/66 erfolgte. Das Bauwerk wurde leider 35 Jahre später nach der 1. Schlacht von Zürich durch französische Truppen unter General André Masséna zerstört, um den nachrückenden Österreichern den Weg abzuschneiden. Sie wurde mit Stroh gefüllt und angezündet. Die Franzosen bereuten die kopflose Zerstörung wenig später und forderten die Wiederherstellung der Brücke.
 
Von der Grubenmann-Brücke zurückgeblieben ist im Aargauer Baudepartement bloss noch das Modell im Massstab 1:40. Die gedeckte und verschalte Holzbrücke wurde von einem verschraubten Bogen aus je 6 übereinandergelegten Balken getragen. Die Fahrbahn und das Dach ruhten auf Zangenpfosten, die mit dem Bogen verschraubt waren. Die Grubenmänner waren schliesslich berühmt dafür, dass sie unwahrscheinliche Spannweiten zustande brachten. Auch ihre Kirchen wie z. B. jene in Trogen AR haben enorme Erstreckungen der Deckengewölbe – an der Grenze dessen, was mit den damaligen Baumaterialien (vor allem Holz) möglich war. Die zimmernden Ingenieure waren Naturtalente, hatten also nicht Physik studiert.
 
1818 entstand dann die heute verkehrsfreie, Fussgängern vorbehaltene Holzbrücke, die nur noch 38 m lang ist, eine Spannweite von 36,71 m hat und kaum noch etwas von der Grubenmann’schen Eleganz erkennen lässt. Da diese Konstruktion der Holzbrücke von Baden AG sehr ähnlich ist, wird angenommen, dass die Wettinger Brücke mit ihrem kombinierten Tragsystem ein Werk des Laufenburger Baumeisters Blasius Baltenschweiler ist; 1971 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Zwischenzeitlich hatte es noch eine Notbrücke gegeben, die aber 1899 gleich durch ein Hochwasser weggespült wurde.
 
Die jetzige Brücke über dem Fabrikkanal, die 7 m über dem Wasser erstellt wurde, hat ein Walmdach. Die tragende Eisenkonstruktion unter und über der Fahrbahn bildet ein Hänge- und Sprengwerk mit verzahnten Gurten. Von der Seite erinnert sie an eine einfache Zweitwohnung mit geschlossenen Fensterläden, um einen Bezug zur aktuellen Diskussion in der Schweizer Voralpenwelt herzustellen.
 
Ich ortete eine Position, von der aus ich die wegen der Verschalung kastenartig anmutende Brücke von schräg gegenüber fotografieren konnte. Und diese war in einem Privatgarten nahe am Kanalufer, in dem ein sportlicher Mann in den Fünfzigern mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Ich bat darum, den Garten betreten und fotografieren zu dürfen – kein Problem. Der Gastgeber war eine sprudelnde Quelle lokalhistorischen Wissens, zumal er die Klostergeschichte auch unter Einbezug der profanen Gebäude offensichtlich eingehend studiert hatte.
 
Nur die Widerlager der jetzigen Brücke stammten noch von Hans Ulrich Grubenmann, klärte er mich auf. Und er zeigte mir weitere Grubenmann-Hinterlassenschaften, so ein grobes Kopfsteinpflaster im Schopf (Wagenremise und Pferdestall) neben seinem Garten. Der einfache Holzbau war erst nach der Klosteraufhebung erstellt worden; der Boden blieb erhalten. Und der freundliche Anwohner besorgte einen Schlüssel fürs Untergeschoss des 1733/34 erstellten Kanzleigebäudes (Kanzlerhaus genannt) mit seinen schlanken Proportionen. Es steht gleich nebenan, auf der anderen Seite der Kanzleirainstrasse. In dessen oberen Etagen sind Wohnungen eingerichtet. Oberhalb der Eingangstors mit seiner stichbogigen Einfassung, über einen zweiseitige Freitreppe zu erreichen, ist das Wappenpaar des Klosters und des Bauherrn Alberich Beusch angebracht. In diesem Haus wohnte der dem Abt untergebene juristisch gebildete Amtmann oder Kanzler, der sich gegenüber Abt und Einwohnern möglichst neutral zu verhalten hatte; neben den Kanzleibüros gab es auch Repräsentationsräume. Neben dem ohnehin auf einer Uferterrasse stehenden Haus am Zollhausweg wurde das Terrain später um fast eine Etage rundlich künstlich erhöht, so dass der Keller umso tiefer wirkt, weil vor langer Zeit angefallener Sandsteinaushub irgendwo deponiert werden musste.
 
Die kühlen, feuchten, tragenden Kellerräume, das Innere des Hausfundaments also, mit den harmonisch geformtem Decken und Wänden sprechen ebenfalls die Sprache Grubenmanns. Die steinerne Türumrandung des Haupteingangs wurde beidseits rundlich eingekerbt, um für den Zutransport von grossen Weinfässern Platz zu schaffen. Am Übergang von Wänden und Dielen sind bereite Nischen eingekerbt, die einst den Lichtzutritt durch inzwischen zugemauerte Fenster ermöglichten. Eine noch leicht angeschwärzte Nische diente dem Abwurf von Kohle. Die groben Kieselpflasterböden sind noch erhalten, auch wenn sie im Verlaufe der Jahrhunderte etwas uneben wurden, wie das mit Pflästerungen so geht. Leichte Spielereien mit dem Muster bezeugen einen Sinn fürs Schöne.
 
Im grössten Kellerraum ist ein üppiger Holzverschlag untergebracht, gut lärmisoliert, in dem Musikliebhaber üben können, ohne die übrigen Bewohner des Hauses zur Verzweiflung zu bringen. Ich fragte meinen netten Begleiter, dessen Sohn sich ebenfalls zu uns gesellt hatte, ob er Lehrer sei. „Ja, Musiklehrer“, antwortete er. Ich fand erst später heraus, dass es sich bei ihm um den Musiker Matthias Baumann handelte. Er wohnt im ehemaligen Abthaus am Kanzlerrain und hat sich dementsprechend für die lebhafte Geschichte seines Wohnumfelds interessiert. Er hätte auch ein guter Geschichtslehrer abgegeben.
 
So hat mir Vater Grubenmann post festum zu einer bemerkenswerten Begegnung verholfen. Ich verabschiedete mich dankend von Herrn Baumann und schaute dann noch 2 Absolventinnen und 1 Absolventen der Kantonsschule Wettingen beim Kunstmalen zu; die Bildungsstätte ist im Klosterareal domiziliert. Die jungen Leute hatten sich an der prallen Sonne vor dem Wettinger Brückeneingang mit Ölfarben, einer Staffelei und all dem Zubehör nötigen etabliert, zumal die neue Brücke mit ihrer Schindelverkleidung nach ihrem Bau ebenfalls einen Ölfarbenanstrich erhalten hatte. Eine der Künstlerinnen hatte ihre Malutensilien auf dem heissen Asphalt ausgebreitet, und ihre langen Beine zeigten schon erste Anzeichen von Sonnenbrand. Die jungen, zugänglichen Leute komponierten, inspiriert vom lichtvollen Tag, abstrahierte Bilder mit erstaunlich sicherem Pinselstrich, brachten von Dynamik beeinflusste Stimmungen und Gefühle zum Ausdruck, und die Sonne beschleunigte den Vorgang des Farbtrocknens.
 
Und ganz oben überwachte der tiefrote, geschindelte Dachreiter über dem Mönchschor der Klosterkirche das Geschehen rund um die Anlage. Der türmchenartige Höhepunkt wurde von Johannes Grubenmann dem Jüngeren entworfen. Er ist niedriger und rundlicher als der vorangegangene Reiter, der vom Blitz gnadenlos erschlagen wurde. Eine knollige Zwiebel ersetzte den vorangegangenen Nadelhelm. Am Achteck alternieren 4 goldene Uhren und zweigeschossige Schallöffnungen.
 
Mich persönlich spricht das schlichte Äussere der Klosterkirche Wettingen mehr als ihr Inneres an. Im Sanktuarium dominiert der Spätbarock vorangegangene Stilphasen, sogar die Spätrenaissance sowie das Rokoko und besonders frühere Stilrichtungen, die sich in mehr Bescheidenheit übten, brutal. Der Altarraum erinnert an eine vergoldete Rumpelkammer eines Antikengeschäfts, in dem jeder Quadratzentimeter überstellt ist. Wie in den allermeisten  katholischen Barockkirchen leben halbnackte, mollige Putten (erotisierende Knäblein mit weiblichen Rundungen) ihre Orgien aus, ohne dass sich die schwebende Gottesmutter an diesem Treiben mit anscheinend pädophilem Nebengeschmack stört – und das alles direkt unter dem biblischen Himmelfahrtsgeschehen. Viele Kunsthistoriker empfinden solche Überladungen als prachtvoll; doch ich bin nur eine Laie aus dem Volk, welcher dem Zuviel an Aufdringlichkeit und Geschrei in der religiösen und profanen Verkündung, heute Werbung genannt, skeptisch bis ablehnend gegenüber steht. So etwas kann den Mangel an tatsächlichen Werten nicht ersetzen. Allmählich müsste man es doch auch im religiösen, sakralen Bereich wagen, zwischen Kunst und Kitsch zu unterscheiden und nicht jede mit blutroter Farbe verschmierte Kreuzigungsszene als hohe Kunst zu adeln.
 
Die lebensfrohe Klosterumgebung mit ihren Bewohnern, einer fröhlich feiernden Hochzeitsgesellschaft, den verschiedenen Gaststätten, den Gymnasiasten, kulturbewussten Besuchern und Wanderern gefällt mir besser. Auch die gebändigte und dann wieder stellenweise befreite Limmat zieht mich an.
 
In der Klosterkirche, in welcher mich der oft in Kirchen anzutreffende, leicht psychoaktive Kampfergeruch (Desinfektionsmittel), der in vielen Räuchermischungen enthalten ist, empfing, war ich an jenem späten Samstagnachmittag der einzige Gast gewesen; draussen aber pulsierte das Leben. Als guter Demokrat verstand ich diesen Mehrheitsentscheid.
 
 
Quelle
Hoegger, Peter: „Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau“, Band VIII, Der Bezirk Baden III: „Das ehemalige Zisterzienserkloster Mariastella in Wettingen“, herausgegeben von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte GSK, Bern, Verlag Wiese, Basel 1998.
 
Hinweis auf weitere Blogs über die Klosterhalbinsel Wettingen
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