Textatelier
BLOG vom: 28.06.2012

Wieder einmal in Genf. Wir trafen auf den Ort der Seelen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Was wären unsere Städte, wenn ihnen der innerste Wesenskern nicht erhalten bliebe. So dachte ich in Genf.
 
Auf dem Tagesausflug in der  zweitletzten Juni-Woche 2012 liessen wir uns treiben. Die Augen offen für das Unbekannte und einem Zufall nicht abgeneigt. Finden, ohne zu suchen. So ungefähr sollte der freie Tag ablaufen. Sich von der Arbeit fernhalten, das nennen wir in der Schweiz „Blauen machen“.
 
Trüb und diffus war das Licht auf der Reise. Aber bald nach unserer Ankunft hellte sich der Himmel auf und strahlte blau aus, wie es der farbige Reiseführer vorgab.
 
Und blau zeigte sich entsprechend auch der Genfersee und weiss wie Schnee die weltberühmte Wasserfontäne, das Wahrzeichen von Genf. Dieser Jet d'eau ist weithin sichtbar, 140 Meter hoch und lässt sein Wasser mit 1360 PS Richtung Himmel schiessen. Diesem Wasserspiel schauten wir zu und beobachteten, wie Bussarde seine Nähe suchten, sein feuchtes Energieumfeld segelnd umkreisten. Wir vermuteten, dass sie sich darin erfrischten.
 
Bald einmal fühlten wir uns vom Genfer Fluidum eingenommen. Von der Offenheit der Stadt am See und dem entsprechenden Temperament der hier ansässigen Menschen. Wie sie ihre Wege gehen. Ihre Gesichter. Ihr Sprachklang. Selbstbewusst, selbstsicher mit einem gewissen Stolz. Ich dachte an meine ehemalige Nachbarin Françoise, eine Genferin. Sie wohnte auch eine Zeit lang in einem Bernoulli-Haus in Zürich, uns gegenüber. Sie vermittelte mit ihrer Art etwas von der geistigen Atmosphäre ihrer Heimatstadt, die ich jetzt wieder erkannte.
 
An einem Geschäftshaus baumelten 5 behelmte Männer. Sie putzten die Glasfront eines hohen Geschäftshauses. Lange fragte ich mich, ob das vielleicht eine künstlerische Installation sein könnte und die Männer nur Figuren seien. Ich konnte sie nicht fragen. Ehemann und Tochter überzeugten mich dann, dass das Männer an der Arbeit seien.
 
Wir überquerten jenen langgezogenen Teil der Innenstadt mit den renommierten Geschäften. Die hier spürbare Energie und Geschäftigkeit hält einen Vergleich mit dem Jet d'eau aus. Der Unterschied bestand für uns nur darin, dass wir nicht in ihn eintauchen konnten.
 
Viel Ruhe und Gelassenheit strömte dann die Altstadt aus. Von ihr heisst es in der Tourismusinformation, sie sei die grösste Altstadt der Schweiz, dominiert von der Kathedrale Saint Pierre, der Hochburg der Reformation. Nachbarin ist die Madeleine-Kirche und in ihrem Umfeld lockt eine Manège zu Karussellfahrten für Kinder.
 
Es war noch nicht Zeit für das Mittagessen, als wir die Taverne de la Madeleine entdeckten. Und sofort waren wir uns einig, hier würden wir dann essen. Dieser Ort zog uns magisch an. Alle 3. Noch wussten wir nichts über seine Geschichte.
 
Das Haus steht erhöht am Berg. Die Wirtschaft wird über eine Treppe erreicht. Oben kann im Freien auf der Terrasse oder im Inneren gespeist werden. Im Album, das verschiedene Menus anpreist, wurde ich gleich aufmerksam auf geschichtliche Hinweise zu diesem Ort. Es sei eines der ältesten Gasthäuser von Genf, befinde sich an der Stelle der seit dem 16. Jahrhundert bekannten Herberge mit dem Namen La Mul. Dieser Name verweist auf das Maultier. War dieser Ort vielleicht eine Karawanserei und eine Umladestation von Gütern, die mit Maultieren auf unwegsamen Gebieten hierher gebracht worden sind?
 
Die Taverne de la Madeleine, wie wir sie vorfanden, wurde 1920 als alkoholfreie Gaststätte gegründet. 1919, zur Zeit des 1. Weltkriegs, kochten hier „Frauen aus gutem Haus“ Suppe für Bedürftige. Es sollen auch wohlhabende Bürger einkehrt sein, weil hier kein Alkoholzwang bestand. Aus diesen Erfahrungen entstand hier ein Ort des Kampfes gegen den Alkoholismus. Bis heute wird in dieser Taverne kein Alkohol ausgeschenkt.
 
Kaum hatten wir auf der Terrasse Platz genommen und die Speisen bestellt, als unten auf der Strasse 2 Männer aus Osteuropa mit ihren Instrumenten eintrafen und zu spielen begannen. Entsprechend sehnsüchtig die Klänge von Akkordeon und Bass. Der Applaus dann eher dürftig. Die Männer kamen an den Tisch, bedankten sich bei uns für die Gabe, seufzten, hier sei es zu ruhig und gingen wieder fort. Nicht alle, die sich hier verköstigten, hatten heute Ferien wie wir. Die Musik war für sie überflüssig.
 
Wir stärkten uns hier mit einfachen, sehr guten Gerichten zu moderaten Preisen. Als ich dem Wirt sagte, er habe ein schönes Gasthaus, schaute er mich eine Weile fragend an, wie wenn er ergründen wollte, ob mir ernst sei. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und da muss er begriffen haben, was ich meine. Ein Ort mit Geschichte, die ausstrahlt. Eine Inneneinrichtung, die ich mit dem welschen Schönheitsbegriff gleichsetze. Ich empfand den Ort als echt.
 
Die Strassenbezeichnung an der Hausmauer der Taverne heisst Toutes Ames (alle Seelen). Unweit entfernt heisst eine andere Strasse Rue d'Enfer (Strasse der oder zur Hölle). Ich nehme an, dass wir uns auf einem einstigen Friedhofgelände befanden. Es freute mich, hier bei den Seelen zu sein. Sind sie es, die dem alten Kern noch Charme verleihen?
 
Dann eine nächste Station: Carouge, das idyllische, ganz andere Genf. Auf der Tramfahrt dortthin fuhren wir an einem gut 200 m langen Gebäude entlang, auf dessen Hausdach die Flaggen flatterten, unzählig viele, aber nur die Genfer- und die Schweizerfahne. Eine Darstellung schöner Ordnung und Gleichberechtigung. Genf-Schweiz-Genf-Schweiz usw.
 
Carouge wollten wir vor allem Letizia zeigen. Sie hätte diese Kleinstadt mit menschlichen Massen, ästhetischer Architektur und mit all den interessanten Boutiquen und Ladengeschäften am liebsten als Gesamtheit nach der Deutschschweiz mitgenommen und sie auf einer noch freien Wiese aufgestellt. Es ist ein unverdorbener Ort, grenzt aber an solche an. Und er wäre gewiss auch verdorben, wenn sich Letizias Wunsch erfüllen liesse. Denn ob die Seele, die zu diesem Ort gehört, sich verpflanzen liesse, das bezweifle ich. Letizia auch. Ihr Ausspruch war eine Form von Liebeserklärung.
 
Zurück in der Genfer Innenstadt, wollten wir in einer Confiserie Prussiens kaufen. Wir wurden nicht verstanden. Letizia zeigte auf das ausgestellte Gebäck. „Ah!“ lachte die Dame hinter der Glasvitrine. „In der Schweiz nennen wir es Coeur der France" (Herz aus Frankreich). Sie muss uns als Deutschschweizer erkannt haben. Nur so erklärt sich ihre humoristische Antwort. In unserer Schweiz, dort wo man deutsch spricht, heisst das Herz aus Frankreich eben Prussiens. Es trägt sogar einen französischen Namen. Und in Paris heissen sie Palmiers.
 
Solch humorvolle Momente prägen unsere Betrachtung von Menschen einer Stadt. Ein einziger kann seinen Ort erstrahlen lassen. Diese Dame wird uns in Erinnerung bleiben.
 
Nachdem ich für diesen Aufsatz den illustrierten Stadtplan für Touristen nochmals durchforstete, ist für einen weiteren Besuch klar, dass wir uns dann den Organisation zuwenden werden, die Genf zur Metropole des Friedens gemacht haben. Und vielleicht können wir uns eines Tages auf der Suche nach dem Ursprung aller Zeiten einer Führung im CERN anschliessen.
 
Wir werden also wieder einmal in Genf ankommen.
 
Als wir an jenem Abend wieder nach Zürich zurückgekommen waren, trafen wir beim Umsteigen vom einem ins andere Tram die erwähnte Genferin Françoise. Grosse Überraschung. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie als Genferin setzte den Schlusspunkt unter unseren Ausflug.
 
Hinweis auf eine weiteres Blog über Genf von Rita Lorenzetti
14.10.2005: Reise nach Genf: Beobachtungen und Begegnungen
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
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