Textatelier
BLOG vom: 25.06.2012

Hingabe ans Hässliche: El Greco – pathologischer Fall?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Düsseldorf ist nicht weit von meinem Wohnort in Viersen D entfernt. Die Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen hat einige Museen, die immer wieder sehenswerte und interessante Ausstellungen bieten, so wie momentan eine Ausstellung über El Greco und die Moderne. Zu bestaunen sind Bilder dieses Malers aus dem 16. Jahrhundert und von modernen Malern, auf deren Bildern der Einfluss von El Greco gesehen wird.
 
Ich habe El Greco immer in den Zusammenhang mit der Kunstrichtung „Manierismus“ gebracht, der laut Wikipedia so definiert wird: „Proportionen werden stark verzerrt zu langen Körpern, Beinen, Hälsen, und Körper posieren in den unmöglichsten, dynamischen Verrenkungen; die Perspektive wird gezielt missachtet. Personen werden oft erotisch oder abstossend hässlich dargestellt. Weitere Stilelemente sind grelle und krasse Farbunterschiede, die mitunter schon expressionistisch anmuten, und Vexierbilder sowie Anamorphosen. (…) Manieristische Stilexperimente sind Vorbilder für den Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Kubismus.“
 
Nur mit diesem Gedanken bin ich in die Ausstellung gegangen. Mein erster Eindruck: El Greco hat die grundlegenden Wünsche seiner Auftraggeber, vor allem Vertreter der katholischen Kirche, mehr als erfüllt. Die meisten seiner Bilder enthalten religiöse Motive. Zur Erinnerung: El Grecos Schaffenszeit fällt in die Übergangszeit zwischen der Renaissance und dem Barock in der Malerei, Baukunst, Musik und Literatur.
 
Ausgehend von der Hochrenaissance, werden deren Stilelemente aufgegriffen und z. T. völlig verwandelt. Die historischen und sozialen Ursachen liegen in den religiösen und politischen Spannungen und Umbrüchen der Zeit begründet (Gegenreformation). Alle Bilder weisen auf die Vergänglichkeit des Lebens hin. Auf vielen sieht man neben den gemalten Personen einen Totenkopf. Es gibt nur Ernstes, Freude am Leben findet nicht statt.
 
Ein Bild zeigt die Erde, den Himmel mit einigen Engeln und unten im Maul eines Höllenhundes die Verdammten. Die nackten Körper, überwiegend Männer, sind durchweg athletisch. Momentdarstellungen, die ausgestreckten Hände und Finger einerseits wie in einem Schnappschuss gemalt, andererseits verzerrt, verlängert, anatomisch unkorrekt. Das Bild eines Kardinals lässt seine Macht erkennen. Die Inquisition lässt grüssen!
 
Bemerkenswert ist der Gebrauch der Farben, das Leuchten des Jesuskinds, das Dunkle im Gegensatz zu den Farben, in der die Körper gemalt sind. Kontrastiv (oder ergänzend) werden sehenswerte, hervorragende Werke moderner Maler gezeigt, die ebenso manieristische Elemente aufweisen, langgezogene Körper, krumme Finger, Weltuntergangsstimmung. Bilder, vor dem Ersten Weltkrieg gemalt, die die Zerstörung der Städte vorwegnehmen. Plastiken von Lehmbruck, charakteristisch sind überlang geformte Körper mit langem Hals, vervollständigen die Ausstellung.
 
Zu Hause habe ich einige Online-Artikel von Zeitungsmeldungen, Magazinen, und der Tagesschau aufgerufen, um zu sehen, wie die Ausstellung dort beschrieben wird. Einige Begriffe sind mir sofort aufgefallen, ich habe sie fett dargestellt:
 
In El Grecos Bildern lebt das Vergängliche. El Greco und die Moderne im Museum Kunstpalast in Düsseldorf ist die erste grössere El-Greco-Ausstellung überhaupt in einem deutschen Museum. Bis zum 12. August 2012 geht sie dem Rätsel nach, wie der Maler sich dem Hässlichen hingeben und trotzdem begeistern konnte  – bis heute.
 
Wenn man an El Greco denkt, diesen Maler, dem nun fast 400 Jahre nach seinem Tod erstmals in Deutschland eine repräsentative Ausstellung gilt, wird man vielleicht zunächst auf Thomas Bernhard verfallen, der in seinem Roman „Alte Meister“ einen seiner bewährten Grantler sagen lässt: „Ja, El Greco, schön, aber der gute Mann hat keine Hand malen können." Da hat Reger, der Grantler, aber nur aus seiner bornierten Sicht recht. Denn er übersieht, dass El Greco Hände gar nicht naturalistisch wiedergeben wollte. Die Hände, die er malte, gestaltete er grotesk wie viele andere Motive. So wurde er zu einem Vorläufer des Surrealismus. (…) Wer den Rundgang durch die Ausstellung vollendet hat, wird El Greco mit seinen übersteigerten Figuren des Spätwerks als frühen, bildgewaltigen Visionär der Neuzeit begriffen haben – und ganz nebenbei bemerken, dass sein späterer Landsmann Salvador Dalí nicht ganz so originell war, wie man gemeinhin glaubt.
 
Der Maler und Kunsttheoretiker Francisco Pacheco attestierte El Greco „crueles borrones“ – grausame Pinselstriche. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnete ihn der Kunsthistoriker Carl Justi als „einen Geisterseher … ein pathologisches Problem, für das ein Arzt zuständig" sei.
 
Ein Spagat über 3 Jahrhunderte. Diese Kunst sei ein Fall für den Augenarzt oder Psychiater, hat ein Kunsthistoriker mal gesagt, denn der Künstler El Greco malte die Menschen mit langgezogenen Gliedern und zerdellten Gesichtern. Bis heute empfinden viele diese Halluzinationen in Öl als radikal. Nur: Diese Kunst ist nicht von heute, sie ist 400 Jahre alt. Und man wundert sich, dass der Mann damals nicht auf dem Scheiterhaufen gelandet ist.
 
Man stelle sich vor, ein schreckliches Kind unserer Kunstwelt steigt in eine Zeitmaschine, um in eine Epoche zurückzureisen, in der die Menschen noch leichter zu schockieren sind. Im Gefühl des sicheren Triumphs springt es 1580 finsteren Blicks in einen römischen Palast, schwängert die Luft mit glühendem Pathos und schlägt den Exzellenzen vor, Michelangelos Meisterwerk „Das Jüngste Gericht“ in einer seinem biblischen Gegenstand angemesseneren Weise zu übermalen. Atemlos vergnügt erwartet der Zeitreisende einen Sturm der Entrüstung – und erntet Schulterzucken. Alles schon mal dagewesen, guter Mann, hier gibt´s nichts mehr zu holen. Wussten Sie nicht: El Greco war in der Stadt.
 
Also: Ein Maler gibt sich dem Hässlichen hin, malt nicht naturalistisch, sondern grotesk, malt grausame Pinselstriche, ist ein pathologisches Problem, für das ein Arzt zuständig ist, ein Fall für den Augenarzt oder Psychiater und schwängert die Luft mit glühendem Pathos im Gefühl des sicheren Triumphs mit finsterem Blick!
 
Erstaunlich zu lesen, wenn man bedenkt, dass die Kunst von El Greco für den Expressionismus, Dadaismus, Kubismus und Surrealismus von Einfluss gewesen sein soll! Alles Künstler, die den Psychiater verpasst haben?
 
Für heutige Zeitgenossen ist es unmöglich, sich in die Lebenswelt unserer Vorfahren der Zeit vor und um dem Jahr 1600 hinein versetzen zu können. Die Menschen unter der Fuchtel der weltlichen und zugleich kirchlichen katholischen Obrigkeit, die mit allen Mitteln alle Macht ausübt, um sie nicht zu verlieren. Ein Leben, gefahrvoll und so unsicher, dass niemand weiss, wann das Lebensende zu erwarten ist. Angst und Schuldgefühle, durch die kirchliche Lehre immer wieder durch die Aussicht auf die ewige Verdammnis geschürt. Bis die gegensätzlichen Kräfte in den 30-jährigen Krieg führen, der 3 bis 4 Millionen Menschenleben kostet, bei einer Gesamtbevölkerung von 17 Millionen fast ein Viertel. Machtpolitik unter dem Mantel des Religionskrieges. Wer oder was ist da pathologisch, der Maler oder die gesellschaftlichen Verhältnisse?
 
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