Textatelier
BLOG vom: 15.07.2012

Gesunde Lebensweise im Mittelalter und Naturapotheken

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Vor ein paar Wochen fand ich auf einem Flohmarkt das Buch „Schwester Bernardines grosse Naturapotheke“, und vor einigen Tagen das Buch „Von der gesunden Lebensweise – nach dem alten Hausbuch der Familie Cerruti“. Gekauft habe ich das letztere vor allem, weil mich die 207 farbigen Miniaturen im Stile mittelalterlicher Malereien in Bann gezogen haben. Dann habe ich mir gedacht, es wäre interessant, beide Bücher wechselseitig zu benutzen. Das Cerruti-Hausbuch ist ein Neudruck eines Codex’ aus dem späten 14. Jahrhundert mit dem ursprünglichen Titel „Tacium sanitatis in medicina“ („Tafeln für die Gesundheit nach Auffassung der Heilkunde“).
 
Die „Naturapotheke“ schreibt nichts über Schwester Bernardine, obwohl ein Foto von ihr in Medaillonform auf dem Umschlag abgebildet ist, sondern nur über die Mitarbeiter des Buches, wovon mich vor allem der für die Botanik zuständige Dipl. Ing. Jan Volak interessiert. Das klingt tschechisch und ist es auch; die Originalausgabe stammt vom Artia Verlag in Prag und ist von 1983, also neueren Datums. Das Cerruti-Hausbuch zitiert Ellbochasim de Baldach, ein Arzt aus Bagdad des 11. Jahrhunderts, von dem das Buch ursprünglich stammt, Bezüge auf Hippokrates nimmt und von dem Sineser Pierandrea Mattioli und dem aus Umbrien stammenden Castor Durante 2 Jahrhunderte später überarbeitet worden ist. Also 2 Bücher, die 800 Jahre auseinander liegen!
 
Unvergleichlich
Die Bücher sind dementsprechend nicht vergleichbar: Während das Cerruti-Hausbuch nach Jahreszeiten eingeteilt ist und im weitesten Sinne Lebensmittel und Gebräuche, Denkart vergangener Zeiten und die Gesamtheit der Faktoren, von denen die Gesundheit abhängt, darstellt, ist Schwester Bernardines Naturapotheke in einer weiteren Überschrift auf Seite 42 überwiegend „Das illustrierte Lexikon der Heilpflanzen“.
 
Ausgehend vom Hausbuch der Familie Cerruti werden Sie im Laufe meiner weiteren Ausführungen erkennen, wie ich beide Bücher komplementär betrachte. In 4 Jahreszeiten eingeteilt, werden jeweils Lebensmittel, Pflanzen, Tiere, Getränke und anderes vorgestellt. Dabei halte ich mich nicht bei mir unbekannten Pflanzen auf, sondern interessiere mich für solche, die mir unbekannt sind. Diese Pflanzen suche ich dann auch bei Schwester Bernardine und vergleiche, was die Bücher jeweils darüber schreiben. Wenn die Pflanze dort nicht auftaucht, schaue ich auch einmal bei Wikipedia nach.
 
Frühling
Ich beginne mit „Frühling“ beim Baum „Die Sykomore, lat. Sicomuri“, der, „wie schon Theophrast berichtete, süsse Früchte gleich dem Maulbeerbaum trägt und deren Fruchtfleisch dem der Feige ähnelt und nützlich gegen Geschwüre im Rachen“ sein soll. Der Baum taucht bei Schwester Bernardine nicht auf. Wikipedia berichtet: „Die alten Ägypter pflanzten die Sykomore als Obst- und Schattenbaum schon vor Jahrtausenden in ihren Gärten an ... Den Milchsaft und die Früchte verwendeten sie als Heilmittel.“
 
Ebenfalls dem Frühling zugeordnet ist „Der Alant, lat. Enula – Diese Pflanze hat grosse Blätter, einen zottigen Stengel und gelbe Blüten, ähnlich der Chrysantheme.“ Morgens gekaut, soll der Alant gelockerte Zähne festigen. Der letzte Satz heisst: „Aus den Wurzeln gewinnt man in Germania einen nach dem Apostel Paulus benannten Heiltrank, der die Sicht schärft.“ Schwester Bernardine erwähnt, dass die Pflanze aus Asien stammt und „gegenwärtig der gesamte Drogenbedarf durch den Anbau in Feldkulturen gesichert“ wird. Man gewinnt daraus Helenin gegen Darmparasiten, Inulin zur Behandlung der Zuckerkrankheit und äusserlich angewendet in Bädern für schwer heilende Wunden, Hautausschläge und Flechten. Von Festigungseigenschaften bei gelockerten Zähnen schreibt die Schwester Bernardine nichts mehr.
 
Heute noch bekannt ist die Alraunwurzel, die auch im Kapitel „Frühling“ im Cerruti-Hausbuch aufgeführt ist und dort als „unglückverheissendes Hexenkraut“ mit grossen Blättern, mehrfarbigen Blüten und „zweispitzigen Wurzeln in der Form von Frauenbeinen“ beschrieben ist. Wie soll man sie ernten? Das Cerruti-Hausbuch empfiehlt: „Beim Sammeln grabe man vorsichtig dort, wo sie aus der Erde wächst, ohne sie jedoch mit einem ehernen Gegenstand oder der Hand zu berühren, worauf man das eine Ende einer Schnur am Stengel, das andere am Halsband eines Hundes befestige. Durch einen Pfiff herbeigerufen, reisst der Hund die Pflanze aus.“ Also: ohne Hund keine Alraune! Dabei soll sie, wenn man daran riecht, Kopfschmerz und Schlaflosigkeit vertreiben und die Salbe die Elefantenkrankheit und Pestilenz heilen. Wikipedia nennt die Pflanze „Alraunen“ und erwähnt, dass alle Teile sehr giftig sind, was erklärt, warum die Alraunwurzel bei Schwester Bernardine nicht auftaucht.
 
Sommer
Kommen wir zum Kapitel „Im Sommer“ im Cerruti-Hausbuch. Zuerst werden eine Reihe von Früchten aufgeführt, die auch heute noch auf dem Speisezettel stehen, wie Pflaume, Pfirsich und Aubergine.
 
Das „wilde Halmgewächs“, das ich namentlich nicht kenne, ist „Der Galgant-Galenga“, „von beissendem Geruch und scharfem Geschmack“. Er soll eine günstige Wirkung bei Ischiasleiden haben, aber „als Heiltrank reizt er zur Unkeuschheit“! Es ist möglich, dass er deshalb bei Schwester Bernardine nicht vorkommt. Bei Wikipedia steht „Galgant“ für Heil- und Gewürzpflanzen aus der Familie der Ingwergewächse (Zingiberaceae). Vermutlich meint das Cerruti-Hausbuch den Grossen Galgant, Thai-Ingwer oder Siamesischer Ingwer (Alpinia galanga, mittlerweile auch Languas galanga geheissen). Das daraus gewonnene Gewürz wird als „Galgant“ bezeichnet. Es hat laut Wikipedia einen scharf-bitteren Geschmack, der nur entfernt an Ingwer erinnert, gut gegen Magenschmerzen und Hautausschlägen, ausserdem ein Bestandteil des Kräuterlikörs „Schwedenbitter“ sei.
 
Es folgt im Cerruti Hausbuch „Der Ysop – Ysopus (Hyssopusofficinalis L.)“, der in keinem Garten fehlen solle, denn er hilft gegen Allerlei: „Er nimmt der Brust die Feuchtigkeit, lindert den Husten, nimmt die Blauverfärbung bei Keuchhusten; mit Salz und Kümmel zerstossen, wird er erfolgreich gegen den Biss von Schlangen angewendet; mit Öl vermischt, tötet er Läuse und lindert Juckreiz.“ Läuse und Schlangenbisse erwähnt Schwester Bernardine nicht, aber zusätzlich hilft der Ysop noch gegen Entzündungen der Harnwege, Nieren und Galle. Es ist ein Halbstrauch mit verholzten unteren Teilen, blauen Blüten und Hartfrüchten. Die Droge wird aus dem Kraut gewonnen.
 
Mir unbekannt ist „Die Raute – Ruta“, die laut dem Cerruti zwar „heilsam bei Vergiftungen und Fallsucht“ sei, aber „allerlei Kopfschmerzen“ hervorrufe und am besten im Schatten eines Feigenbaumes gedeihe. Die Mauswiesel wappneten sich mit ihr, wenn sie gegen eine Schlange kämpfen müssen. Bei Aristoteles werde sie erwähnt, „wo Stagirit über die Verzauberung spricht“ und Geister vertreibe. Galenus bestätige, dass sie „das Feuer der Venus zum Erlöschen bringt.“ Schwester Bernardine erwähnt, dass die Pflanze in verschiedenen Medikamenten den Blutdruck senke, das Nervensystem beruhige, Kopfschmerzen und Herzklopfen mildere (!), Verdauung und Galle-Absonderung unterstütze und Darmparasiten vernichte; und sie schreibt im Fettdruck, dass die Raute giftig sei. Äusserlich könne man die Raute bei Augenspülungen, für Umschläge auf Wunden und Geschwüre, als Gurgelmittel und für Bäder anwenden.
 
Die nächste Pflanze ist „Der Andorn – Marubium“. Im Cerruti-Hausbuch wird beschrieben, dass die Blätter „scharfe Körpersäfte“ erzeugen und, zusammen mit anderen Pflanzen in starkem Weisswein gekocht, gegen Verschlüsse der Körperkanäle wie der der Galle helfe. Bei Schwester Bernardine steht zu lesen, dass die Pflanze früher in Südeuropa zur Heilung von Tuberkulose und Malaria angewendet worden sei und bei Erkrankungen der oberen Atemwege, also Erkältung und Asthma, helfe und den gesamten Verdauungsprozess, aber auch die Tätigkeit der Leber und Galle, unterstütze, bei unregelmässigem Herzschlag und Menstruationsbeschwerden helfe und äusserlich bei schmerzhaften und entzündeten Wunden angewendet werden könne. Im Kapitel „Im Sommer“ kann man im Cerruti-Hausbuch ausserdem noch über allerlei Gemüse, Hirse, Essig, Weisswein und Rosenwasser lesen.
 
Herbst
Kommen wir zum Kapitel „Im Herbst“. Mir unbekannt ist „Die Jujube – Juiube“, ein Baum, etwas grösser als der Pflaumenbaum mit dornigen Zweigen. Die olivenähnlichen reifen, gelben und süssen Früchte sind „wenig nahrhaft, jedoch eine Leckerei und sehr begehrt bei Frauen.“ Die grösseren und geschälten Früchte machen „phlegmatisches Blut“ und erzeugen Blähungen. Bei Schwester Bernardine ist der Baum nicht zu finden. Dafür erläutert Wikipedia: Mit Jujube werden verschiedene zur Gattung Ziziphus gehörende nutzbare Steinfrüchte bezeichnet: Chinesische Jujube (Ziziphus jujuba Meikl.) und Indische Jujube (Ziziphus mauritiana Lam.).
 
Ich meine mich zu erinnern, dass ich sie in Indien probiert habe, etwas grösser als Kirschen, mit 1 bis 2 Fruchtsteinen und im Geschmack ähnlich wie die Birnen. Sie sind reich an Karotin, Vitamin A und C und dienen zur Herstellung von Chutneys. Über eine medizinische Wirkung steht bei Wikipedia nichts.
 
Die weiteren Lebensmittel des Herbsts sind alle auch heute noch bekannt, wie Pastinake und Trüffel.
 
Interessant sind noch die Beschreibungen bei  „Die Lakritze – Liquiritia“: „Theophrast berichtet, dass die Skythen 10 oder gar 12 Tage lang ohne Nahrung auskommen konnten, nur weil sie stattdessen Lakritze kauten und lutschten.“
 
Und ausserdem bei „Die Eichel – Glandes“, die zwar hauptsächlich Nahrung für Schweine seien, die man aber, geröstet und mit Zucker bestreut, verspeist. „Nach Dioskurides erhält man aus den Früchten einen Absud, der, mit Kuhmilch getrunken, ein wirksames Mittel gegen Gifte darstellt. Gehackt und als Breiumschlag aufgelegt, lindern sie Entzündungen. Vermischt mit Schweineschmalz, ebenfalls als Umschlag angewendet, heilen sie bösartige Geschwülste.“
 
Winter 
Im Kapitel „Im Winter“ werden im Cerruti-Hausbuch werden allerlei Tipps gegeben, wie man die kalte Jahreszeit übersteht und von Lebensmitteln, die heutzutage nicht mehr so oft gegessen werden, wie „Die Augen – Oculi animalium“ von Zicklein, denn „sie mehren den Samen im Manne“ und „Die Hoden – Testiculi“, die sie ebenfalls stärkten, wie ihnen nachgesagt werde, besonders die vom Hahn. Sie wirkten aphrodisierend.
 
 „Salzwasser – Aqua salsa“ sei nach Ellbochasim am verträglichsten, wenn es fliesse und nicht bitter schmecke. „Mit Essig, Wein oder Honig aufgekocht und auf Brühe von Fisch oder Hahn getrunken, verwendet es mancher zur Körperreinigung“.
 
Zu guter Letzt kommen wir noch zu „Der Theriak – Triacha“, eine von Galenus gelobte „opiumhaltige Medizin“, die „hält, was sie verspricht“, eingenommen vor oder nach einem Biss eines wilden Tieres sei noch niemand daran gestorben, und der Theriak „bekämpft Pestfieber, Lähmungen und Melancholie. Am wirksamsten ist der, welcher länger als 10 Jahre gelagert wurde.“ Bei Wikipedia wird noch erwähnt, dass er als Gegengift entwickelt worden sei und im Mittelalter als Universalheilmittel gegen allerlei Krankheiten angewandt wurde.
 
Schatztruhen 
Das Hausbuch der Familie Cerruti ist eine wahre Schatzgrube, wenn man sich über das Leben im Mittelalter informieren will, und die vielen Miniaturen, die Tiere und die Lebensweise zeigen, kann man immer wieder aufs Neue betrachten. Aus Schwester Bernardines Naturapotheke kann man allerlei über Heilpflanzen lernen, von ihrer Geschichte angefangen bis zu Rezepten für die Gesundheit. Die gezeichneten Pflanzendarstellungen eignen sich auch dafür, zu ermitteln, um welche Pflanze es sich handelt, falls man bei einem Spaziergang einmal eine entdeckt, die einem unbekannt ist.
 
Quellen
„Von der gesunden Lebensweise – Nach dem alten Hausbuch der Familie Cerruti mit 207 farbigen Miniaturen“, BLV Verlagsgesellschaft München Wien Zürich, 1985.
„Schwester Bernardines grosse Naturapotheke“ Artia, Prag, 1983.
 
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