Textatelier
BLOG vom: 06.08.2012

Savoyen 2: Chamonix – die vermasste, einst mondäne Welt

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Dank, dass ich in dir leben darf, Frankreich ... Du warst gastlich vom ersten Tag an. Du hast niemals den Fremden verspottet, wenn er Vokabeln, Bräuche, Stadtviertel verwechselte. Du hast dich nie gespreizt, du hast dich nie versagt.
Wer dich zu suchen ausgeht, kann dich finden.“
Kurt Tucholsky
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Auf den ersten Blick mutet Chamonix mit seinen rund 9000 Einwohnern wie ein im Châletstil verhäuselter Alleralpenweltsferienort an, der zu schneebedeckten Bergriesen emporschaut. Einige der Zacken sind mit Seilen angebunden und ein gefundenes Fressen für Bergsteiger mit ihrer Vorliebe für steile, am liebsten überhängende Wände. Zu den Seilen, Pickeln, Nagelschuhen und Steigeisen sind inzwischen Hightech-Werkzeuge gekommen: angewandte Physik für Gebirgsakrobaten. Der Siedlungsbrei selber liegt innerhalb eines 23 km langen, trogförmigen Tals, das vor weniger als 10 000 Jahren von einem riesigen Gletscher ausgehöhlt wurde.
 
Pionier-Gäste
Wenn immer man in die Tiefen des alpinen Tourismus abtaucht, taucht der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe auf, der sozusagen überall war. So logischerweise auch in Chamonix in Savoyen. Und er brachte etwas vom Erhabensten zu Papier, das über diesen Ort, wie er sich am Ende des 18. Jahrhunderts präsentierte, gesagt wurde: Die Firnwelt sei dort „von einem innern geheimnisvollen Lichte durchzogen“. Und eigentlich habe ich das ebenfalls so empfunden, als wir bei Sonnenuntergang vor dem Restaurant „Le Fer à Cheval“ an der 25 Place du Poilu tafelten. Das gastliche Haus hatte mir ein Buchhändler mit guten Gründen empfohlen, bei dem wir nach Chamonix-Literatur fahndeten. Mit dem Hufeisen (Fer à Cheval = Pferdeeisen) hatten wir Glück. Wir bestellten das Menu Plaisier, erhielten einen Genferseefisch bzw. ein schmackhaftes, perfektes Rindersteak zu Bratkartoffeln und Gurkengratin (28 Euro/Person).
 
Die gegen das Dorf rekordverdächtig herabhängende Zunge des Glacier des Bossons (= Buckelgletscher), der an der Nordflanke des Mont-Blanc klebt und direkt vor uns lag, war allein auf weiter Flur vom Sonnenlicht bestrahlt, währenddem die Umgebung bereits in den gräulichen Zustand der Abenddämmerung verfallen war. Unser vergnügliches Abendessen, das wir unter Sonnenschirmen einnahmen, bereitete uns vor dieser Kulisse umso mehr Freude. Das Tempo des steil abwärts verlaufenden, 7 km langen Bosson-Gletscherflusses von 1 Meter pro Tag brauchte uns nicht zu ängstigen.
 
Wenn man solch einen Retorten-Tourismusort näher ergründet, freundet man sich zunehmend mit ihm an, beginnt zu verstehen, was man zuerst nur oberflächlich erlebte. Genau so ist es auch dem deutschen Naturforscher Alexander von Humboldt und weiteren Koryphäen der romantischen Schule ergangen: dem französischen Schriftsteller und Diplomaten François-René de Chateaubriand, dessen Ideen ich auch gern auf Speisekarten begegne, ferner den französischen Schriftstellern Victor Hugo, Alexandre Dumas, George Sand und Théophile Gautier, um nur einige der Geistesgrössen zu nennen, die sich in Chamonix-Mont-Blanc inspirieren liessen. Doch die Pioniere der Beschreibung von Chamonix waren nicht sie, sondern die Engländer William Windham und Richard Pocock, Forscher und Reiseschriftsteller, die 1741 Chamonix im Nahbereich von schrecklichen Felsnadeln und drohender Gletscherströme, die sich etwa mit einer Geschwindigkeit von 1 cm pro Stunde bewegen, bekannt machten. Wo heute der Bahnhof Chamonix ist, ragten damals Eisfirnzacken auf. 
 
Nachdem Savoyen vom Königreich Sardinien-Piemont an Frankreich übergegangen war, beehrten Kaiser Napoléon III. und die erstaunlich geländegängige Kaiserin Eugénie das Dorf und das oberhalb davon liegende Mer de Glace (Eismeer, Frankreichs grösser Gletscher) mit ihrer Aufwartung. Und auch die berühmte schwedische Nachtigall Jenny Lind (1820‒1887) kam seinerzeit hier angeflogen und sang und trillerte in den Gärten von Chamonix, was sonst im Nachtigallenbereich hauptsächlich wir Männchen tun, noch bevor das 1. Casino (1886) eröffnet wurde.
 
Etwas an Glanz eingebüsst
Irgendwie scheint im Dorf Chamonix auf 1037 Höhenmetern wegen des Ersten Weltkriegs etwas schief gelaufen zu sein: Infolge der Wirtschaftskrise, was es schon damals gab, wurden die beiden Palasthotels „Chamonix-Palace“ („La Résidence“) und das Hotel „Majestic“ geschlossen und in Wohnblöcke umgewandelt. Gewisse Impulse gaben die 1. Olympischen Winterspiele, die in diesem Ort stattfanden. Doch wurde Chamonix von Megève („Capitale du Ski“ auf 1113 m) konkurrenziert. Als es 50 Jahre später wieder bergauf ging, fehlte die Mondänität, und Chamonix blieb, zum blossen Ausflugsziel degradiert, vorwiegend auf den Wintertourismus ausgerichtet. Aber der Mont-Blanc als höchster Berg Europas übt selbstredend immer eine enorme Anziehungskraft aus, offensichtlich besonders auf Asiaten von der wohlhabenderen Natur, die hier schubweise vorbeigeschleust werden. In Chamonix sind auch moderne Hochbauten entstanden, die allerdings im Vergleich zur Alpenwelt mickrig wirken.
 
Spezialitäten für den Gaumen
Chamonix ist alles andere als ein verschlafener Ferienort. Man findet einen opulenten Schul- und Sportkomplex, zahlreiche Hotels und Läden im Ortszentrum, die sich der regionalen Produktion verschrieben haben. In den Spezialitätengeschäften türmen sich Trockenwürste und reife Käse, flankiert von Weinen und Spirituosen wie dem kräuter-bukettreichen, etwas klebrigen Chartreuse. Zuerst einmal deckte ich mit savoyardischem Wein (Chautagne rouge, leider mit einem Korkimitat aus Plastik verschlossen) und dem Likör Génépi aus der Schwarzen Edelraute (auch Alpenwermut, Artemisia genipi, genannt) ein. Solche Liköre sind für mein Empfinden meistens zu sehr aufgezuckert; doch fand ich ein Fläschchen 50-volumenprozentigen Génépi aus der Distillerie St. Bruno in F-38210 St-Quentin (Isère), in dem der hohe Alkoholgehalt den Zuckergehalt etwas ausbalanciert. Der Geschmack ist delikat und eigenartig, eine verflüssigte Alpenweide. Der Alpenwermut ist eine Rarität. Die Flasche (mit „Saint Gervais“ beschriftet) mit dem Wachsüberzug über dem Ausguss war etwas schwierig zu öffnen – aber man hat ja schliesslich sein bewährtes Schweizer Taschenmesser dabei.
 
Auch einem kleinen Stück Terrine campagnard und verschiedenen Käsesorten wollte ich nicht widerstehen. Wozu reist man denn! Zum Glück haben wir noch ein Stück „Compte Marcel. Petite Reserve“-Käse (27 Euro/kg) heimgeschleppt. Eva raste in Chamonix herum, um das defekte Kabel für die Kühltasche, mit dem Strom von der Autobatterie bezogen werden kann, reparieren zu lassen. Sie war von der Hilfsbereitschaft der Fachleute überwältigt, die allerdings unsere Kühlanlage nicht in Aktion bringen konnten. Wir kauften in der Folge in Kiosken von Campingplätzen Plastikflaschen mit tiefgefrorenem Mineralwasser und versorgten sie im isolierten Behälter. Bei solchen Einsätzen lernt man einen Ort und die Menschen etwas kennen.
 
Die Preise sind in Frankreich im Allgemeinen deutlich höher als im Euroland Deutschland, aber immer noch unter dem Schweizer Niveau.
 
Lebendiger Ort
Auch das Kulturangebot ist gross – diesbezüglich sei auf das Alpen-Museum (Musée alpin) und das Kristallmuseum (Musée des Cristaux) hingewiesen, die ich im Regenwetterfall besuchen wollte. Aber es blieb schön. Im Espace mémoire Marcel-Wilbaut sind Bergmotive und Architekturzeichnungen dieses Malers zu sehen. Zwischen etwa 18 und 22 Uhr treten um Zentrum elektronisch verstärkte Musikgruppen auf, die Gletscherabbrüche auslösen könnten. Die vielen Strassenrestaurants sind gut besetzt. Und die kanalisierte Arve, einst ein ungezähmter Wildbach, führte während unserer Besuchstage (25. und 26.07.2012) annähernd Hochwasser, eine Art von weiss-bräunlicher Gletschermilch. Viele Brücken überwinden heute das strömende Hindernis; und überall, auch auf Brückengeländern, gibt es üppigen Blumenschmuck.
 
Die Berg- und Gletscherwelt rund um den Mont-Blanc ist heute üppig von Seilbahnen, Gondeln, Skiliften und Zahnradbahnen umgarnt, und kühn angelegte Bergbahnen sowie Helikopter (Hubschrauber) gehören zu den mechanischen Aufstiegshilfen (über die Seilbahnfahrt auf die Aiguille du Midi auf 3842 m wird im Blog „Savoyen 3“ berichtet). Der englische Autor John Ruskin würde sich heute noch mehr als 1865 empören, als er mit Bezug auf die Bergwelt ausrief: „Ihr habt die Kathedralen der Erde zu einer Rennbahn gemacht.“ Damals ging es noch relativ gemächlich zu und her.
 
Das Ski- und Schlittenfahren hat selbst den Eingang der Église St-Michel als Fassadenmalereien in Beschlag genommen, nachdem ja der Sportbetrieb schliesslich zu einem Heiligtum wurde. Wer eine Goldmedaille holt, wird zum Halbgott. Die Kirche mit den Barockaltären ist im repräsentativen napoleonischen Stil erbaut und hat einen Zwiebelturm. Doch ist sie in dieser herrlichen Alpenwelt bloss eine Randerscheinung. Berge von der Erhabenheit eines Mont-Blanc und dessen Hofstaat aus Stein, Schnee und Eis sind unübertrefflich, es sei denn, man sehe sich im Himalaya um.
 
Hinweis auf den vorangegangenen Savoyen-Bericht
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