Textatelier
BLOG vom: 29.08.2012

Raaz, Bongoverkäufer: Die Mühsal, in Indien zu überleben

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Vor ein paar Jahren war ich als Tourist in Indien, allein. Ich fuhr mit dem Zug, nicht in der gehobeneren Klasse, sondern in der einfachen, ohne Klimaanlage, ohne vorherige Platzreservierung. Die Plätze waren alle belegt, die Gänge voll mit Menschen. Die Fenster hatten keine Verglasung. Alles drängte sich. Einige Passagiere hatten sich einfach auf den Boden gesetzt und liessen die anderen um sich herumlaufen oder stehen.
 
Ich hatte einen Koffer bei mir, den ich zwischen die 2 Toiletten am Ende des Waggons abgestellt hatte. Die Toiletten wurden oft aufgesucht. Ich stand zwischen den Menschen, hatte kurze Gespräche mit ihnen, eine Nonne, die mir erzählte, wo sie hin wollte. Manchmal war der Zug so voll, dass die Menschen halb aus der Abteiltür heraushingen. Der Zug fuhr langsam, hielt oft. Trotz der Enge schaffte es der Schaffner, die Tickets zu kontrollieren, und auch den Verkäufern von Snacks und Chai gelang es, ihre Waren abzusetzen.
 
An einem Bahnhof stieg ein junger Mann ein. Er hatte 5 Bongos bei sich, runde Schlaginstrumente, auch Drums genannt. Er legte sie auf meinem Koffer ab. Wir kamen ins Gespräch; sein Englisch war verständlich. Ich zeigte ihm mein Interesse an seinen Bongos, und inmitten des Gedränges unterrichte er mich darin, wie man das Instrument spielt und liess mich probieren. Ich kaufte ihm ein kleines Bongo ab. Raaz, so ist sein Name, war sehr dankbar, denn das Geschäft war in den letzten Tagen schlecht gewesen; die meisten Touristen waren wegen der Hitze abgereist, und die Konkurrenz war gross.
 
Er war dankbar und lud mich für den nächsten Tag in seine Unterkunft zum Essen ein. Wir waren in Trivandrum, der Hauptstadt von Kerala im Süden von Indien. Irgendwie klappte es nicht, etwas sträubte sich in mir, ihn aufzusuchen. Er, ein junger Mann von Ende 20, dunkelhäutig und wie die meisten indischen Männer mit einem kleinen Schnurrbart, hätte altersmässig mein Sohn sein können. Ich hatte einfach Bedenken, vielleicht erhoffte er von mir etwas, was ich ihm nicht geben konnte. Ich ging einfach nicht hin.
 
Am darauf folgenden Tag besuchte ich einen Badeort 40 km nördlich der Stadt. Am Strand kam mir Raaz entgegen. Wir blieben den Tag über zusammen. Erst jetzt lernte ich seine sanfte, fast depressive Natur kennen. Er erzählte mir etwas aus seinem Leben. Geboren in Nordindien in eine ärmliche Familie mit vielen Kindern, hatte er das Handwerk seines Vaters gelernt, nämlich das Bauen der Bongos, und war schon früh mit ihm auf Reisen gegangen, um diese zu verkaufen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, die Schule zu besuchen, war also Analphabet, was er sehr bedauerte. Durch seine Reisen hatte er die englische Sprache so gut gelernt, dass er sich darin unterhalten konnte. Er stellte die Bongos per Handarbeit her, verzierte durch Schnitzen die hölzernen Seiten mit Ornamenten und Blumen und bespannte sie mit Ziegen- oder Kamelleder.
 
Er war ein guter Spieler und zeigte mir auch an diesem Tag wieder, wie er es anstellte, der beidseitig bespannten Trommel rhythmisch schöne Töne zu entlocken. Aber er musste verkaufen; denn davon lebte er. Aber auch hier gab es kaum noch Touristen, und heute hatte er noch kein Geld verdient, Geld, das er dringend für sein Zimmer im Ghandi-Hotel in Trivandrum benötigte, eine billige Unterkunft, in dem er in einem 4 m2 grossen Loch mit 2 Freunden lebte und die Trommeln herstellte.
 
Wir fuhren abends gemeinsam mit dem Bus zurück in die Stadt, und dieses Mal nahm ich sein Angebot an, zu ihm zum Essen in dieses „Hotel“ zu kommen. Eigentlich konnte man diesen dunklen Bau hinter dem Hauptbahnhof mit engen Treppen, einem offenen Gang, auf die die Türen der Zimmer hinausgingen, nicht so nennen, eher eine üble Absteige. Für eine Etage gab es eine Toilette und eine Duschecke. Hier hausten 16 junge Männer, die alle in diesem Geschäft unterwegs waren, Bongos zu bauen und zu verkaufen.
 
In seinem kleinen Zimmer hatten er und seine Freunde ein wenig Platz gemacht, gekocht wurde im Raum, ein einfaches Gericht mit Reis und ein wenig Gemüse. Er hatte keine Hintergedanken bei der Einladung, es war einfach Gastfreundschaft.
 
Er erzählte, dass er als Nordinder hier im südlichen Teilstaat Kerala keine Erlaubnis hatte, zu verkaufen und immer die Polizei fürchten musste. Erwischte sie ihn, verlangten sie Steuern oder verjagten ihn.
 
Die Armen untereinander halfen sich, so gut wie es ging, mit Unterstellen der Instrumente und Essen. Freunde hatte er also, aber auf Dauer reichte das nicht, und er wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte.
 
Danach habe ich ihn nicht wiedergesehen. Mag sein, dass er wieder nach Nordindien gezogen ist, mag sein, dass er irgendwo ein Auskommen und eine Bleibe gefunden hat. Ich hoffe es für ihn. Das Bongo steht bei mir im Wohnzimmer in der Ecke und erinnert mich an ihn und an die Mühsal, in Indien zu überleben.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Indien-Berichte von Richard Gerd Bernardy
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