Textatelier
BLOG vom: 25.09.2012

Albert Camus und der Abtrünnige abseits der Herde

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der Cursor blinzelt mir auf der Startseite meines PC zu. Worüber soll ich schreiben?
 
Ich stelle mir vor, dass ich über eine Brücke gehe, die ich nie zuvor betreten habe. Wohin führt sie? Ins Niemandsland. Heute fühle ich mich genau so, wie von Albert Camus in seiner Kurznovelle „Le renégat ou un esprit confus“* beschrieben. Im Wörterbuch ist „le renégat“ mit „der Abtrünnige“ übersetzt. „Un esprit confus“ übersetze ich mit „ein verwirrter Geist“. Albert Camus war ein Pied-noir, 1913 in der ehemaligen französischen Kolonie Algerien geboren. Er kannte die Geheimnisse der Wüste und ihre Nomaden im Niemandsland. Und selbst in der Wüste gibt es Oasen. Camus wird der Schule des Absurdismus zugeordnet.
 
Der Cursor blinzelt wieder, wie ich innehalte. Hier trenne ich mich von Albert Camus, weil ich mich dem Niemandsland nähere. Das kann doch nicht mein Exil in der Wüste sein! Wie entrinne ich diesem Paradoxon? Kann ich ein altes Thema neu fassen? Stehe mir diesmal das Wort „der Abtrünnige“ bei.
 
Der Abtrünnige ist mit einem Eigenbrötler oder Sonderling verwandt, der sich in der allgemeinen Konvenienz Spielraum für die eigene Meinungsbildung vorbehält. Wenn alle einhellig im gleichen Boot rudern, ist es für ihn als Aussenseiter Zeit, über Bord zu springen. Er will in der Einheitswelt sein Eigenleben schützen und verlässt sich auf seine eigenen Einsichten. Diese Keime des eigenständischen Denkens wachsen zögernd und langsam im Verlauf des Lebens. Der Abtrünnige wird von vielen verwirrenden Zweifeln geplagt, ehe sich seine Einsichten formen und festigen.
 
Der Tribut, der die Konvenienz entrichtet, heisst Konzession. Doch gilt es, mit solch einem Tribut sparsam umzugehen, gerade ausreichend, um den gesellschaftlichen Erfordernissen zu genügen, soweit beruflich und privat erforderlich. Der Abtrünnige wird in unserer Gesellschaft geächtet. Er passt schlecht in die Norm. Wir alle sind in einer Herde eingebunden. So hat es die Natur über uns verfügt. Nun kommt es darauf an, in welche Herde man sich eingliedert. Für viele Leute stellt sich die Frage nicht. Sie ordnen sich fraglos ein und sichern sich ihr Auskommen.
 
Der Anschluss in der Grossherde ist mit einem Freipass gesichert. Mit diesem Freipass gibt man viel seiner persönlichen Freiheit preis. Das bemerken wenige. Auf dieser dicht gedrängten Weide ist der Mensch als bedeutungsloses Individuum von Stacheldraht umzingelt. Er meint, dieser Stacheldraht verhindere Einbrüche von aussen ins Gehege. Er täuscht sich, denn auf dieser Welt gibt es viele Grossherden, die es aufeinander absehen, angeführt von Heerscharen, die fremde Länder und Völker erobern, unterjochen oder ausmerzen. Es gibt zahlreiche Kriegsauslöser, worunter die Religion, Rassen, Bodenschätze, Grossmachtgelüste und ein Sammelsurium von strategischen Vorteilen, von der Geografie und vom Klima bestimmt.
 
Der Aufprall zwischen der westlichen, vom Materialismus geprägten Welt und der östlichen Lebensart hat sich entschärft. Japan, China und Teile von Indien haben sich unterm Druck der USA weitgehend verwestlicht.
 
Wer im westlichen Gefüge lebt, füge sich gefälligst, wenn mehr und mehr Grundfreiheiten beschnitten werden. Aber es gibt sie noch, die Oasen in der Einöde, worin Abtrünnige Unterkunft finden und kleinere Herden bilden. Sie weigern sich, die Brücke ins Niemandsland zu überqueren. Sie finden Unterschlupf in der Kunst, der Wissenschaft, der Umweltpflege und vielen anderen Belangen und Wirkungsstätten. Daraus erneuert sich die Hoffnung zu einer heileren Welt.
*
Albert Camus hat in seiner Novelle „L’hôte“* (Gastgeber) ergreifend geschildert, wie ein Schulmeister den ihm als Geissel anvertrauten Daru springen liess. Das armselige Schulhaus war abgelegen im Niemandsland, auf einer steinigen Anhöhe mitten in der Wüste. Er forderte ihn auf: „Ça, c’est la piste qui traverse le plateau. A un jour de marche d’ici, tu trouveras les pâturages et les premiers nomades. Ils t’accueilleront et t’abriteron, selon leur loi.“ (Das da ist die Piste, die das Plateau überquert. Ein Tag zu Fuss und du erreichst die Weide und die ersten Nomaden. Sie werden dich empfangen und beherbergen, gemäss ihrem Brauch).
 
 
* Buchhinweis
Albert Camus „L’exil et le Royaume“, erstmals 1957 von der Librairie Gallimard veröffentlicht.
 
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