Textatelier
BLOG vom: 09.10.2012

Dem offenen Fotoalbum entstiegen unsere Geschichten

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Vor ein paar Wochen stellte unsere Tochter Letizia fest, dass es in ihrem Fotoalbum kein Hochzeitsbild von uns Eltern gebe. Kein Wunder, fügte sie gleich hinzu. Da war ich noch lange nicht auf der Welt. Ich konnte ihr den Wunsch erfüllen, fotografierte die ein halbes Jahrhundert alten Bilder und schickte sie ihr per E-Mail.
 
Und für mich gab das Album dann noch überraschende Funde preis. Es lagen in ihm die Rechnungen für das Hochzeitsessen und ebenso für die Autocarfahrt mit den Gästen.
 
Die grösste Überraschung aber bot ein amtlicher, an mich gerichteter Briefumschlag von der Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich, per Nachnahme zugestellt. Kosten 65 Rappen. Aufgeklebte Briefmarken: 25 Rappen Porto.
 
Ich hatte dort nach dem Geburtsdatum jenes jungen Mannes gefragt, den ich dann auch heiratete. Ich wollte ihn an seinem Geburtstag überraschen. Durch meine kaufmännische Lehre war ich mit der Einwohnerkontrolle vertraut, musste dort von Zeit zu Zeit nach Adressen säumiger Kunden fragen, wenn diese wegen einer Adressänderung unerreichbar geworden waren.
 
Die Auskunft wurde mir auf dem Brief meiner Anfrage unverzüglich zugestellt. Mit dem roten Schreibmaschinenfarbband getippt ist zu lesen: Bericht: Obgenannter ist geboren am XY und Jahrgang. Hochachtungsvoll Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich Adjunkt XY.
 
Der Anfrage hatte ich 60 Rappen in Briefmarken beigelegt. Die Bearbeitung hätte aber 1 Franken gekostet. Darum erreichte mich dann die Antwort per Nachnahme. Der vom Postboten eingezogene Betrag setzte sich aus den 40 Rappen, die bei den Briefmarken fehlten, und dem Porto (25 Rappen) für die Zustellung zusammen.
 
Das war ein richtiger Humorbeitrag. Ich war alleine, als ich die Dokumente entdeckte. Ich lachte herzhaft und auch dann wieder, als ich Primo davon erzählte. Ich lachte vor allem über mich selbst und wie ich im Leben alles, was mit Schreiben möglich war, mit Schreiben erreichte. Und unsere Töchter fragten sofort, wie denn das mit dem Datenschutz gewesen sei, damals, vor mehr als 50 Jahren? Hat man Dir diese Frage wirklich beantworten dürfen?
 
Diesen Datenschutz gab es in der heutigen Form noch nicht.
 
Und dann wunderten wir uns auch über diese kleinen Beträge, die man heute nicht einziehen würde, weil der Aufwand dafür zu gross wäre. Sie sehen kleinlich aus, doch müssen wir zu dieser Geschichte auch einen Monatslohn von damals kennen.
 
Vorab nenne ich noch die Kosten für eine Nachnahmesendung, wie sie heute verrechnet wird. CHF 18.– Grundgebühr. Die Höhe des einzuziehenden Betrages spielt für sie keine Rolle. Aber es muss noch das Brief- oder Paketporto dazu gerechnet werden.
 
Als ich die kaufmännische Lehre 1958 beendete, riet uns der Kaufmännische Verein, keine Stelle unter dem Mindestlohn von CHF 450. – anzutreten. Und heute: Im Internet fand ich die Angabe des Mindestlohns für das Jahr 2011: CHF 63 100.– Jahressalär = CHF 5258.– pro Monat.
 
Als wir 1962 heirateten, kostete uns das Hochzeitsessen für 17 Personen:
 
Mittagessen mit Wasser, Wein, Kaffee, 12 % Service und für die Entgegennahme eines Telegramms (50 Rappen) total CHF 179.90.
 
Im Verhältnis zu den bisher genannten Preisen empfinden wir die Autocarfahrt als ganztägige Begleitung rund um den Zürichsee und einem Abstecher ins Züricher Oberland mit CHF 216.– teuer. Aber solche Autofahrten waren früher wirklich mit einem Hauch Luxus umgeben.
 
Unsere Monatsmiete von damals CHF 75. – für eine 3- Zimmer-Wohnung in einem alten Haus.
 
Mit diesen Zahlen lässt sich auch belegen, dass ich in den ersten Monaten unserer Ehe Lebensmittel für einen Tag kaufen konnte, auch wenn keine Banknote im Portemonnaie lag. Plötzlich war das dann nicht mehr möglich.
 
Und meine Mutter hatte als Weberin in der Textilindustrie CHF 600.– für ihre Aussteuer erspart und wegen der Weltwirtschaftskrise anfangs der 1930er-Jahre alles verloren, weil die Sparkasse Bankrott ging. Erst jetzt begreife ich besser, wieviel Geld das bei den damaligen Verhältnissen bedeutete.
 
Und die eingangs erwähnten fotografierten Fotos inspirierten Letizia dann zu einer feinen Tischdekoration zur schlichten Feier unserer goldenen Hochzeit. Zu sehen bei http://machetwas.blogspot.ch/2012/10/zum-50-hochzeitstag.html.
 
Die Enkelkinder lieferten dazu ebenfalls einen Beitrag. Sie malten Tischsets als Tellerunterlagen und liessen sie laminieren. Auf ihrer Reise nach Zürich kam die Sendung nur langsam voran. Sie erreichte mit nur einer Stunde Vorsprung die Zeit des festlichen Mittagessens bei Letizia. Ende gut, alles gut. Jene, die die Ankunft der Sendung sehnlichst erwartet hatten, konnten endlich wieder durchatmen.
 
Das war ein Etappenhalt. 50 Jahre gemeinsames Leben, von dem ich immer sage, Primo und ich seien 2 Ochsen vergleichbar, die denselben Karren ziehen. Geschichten stiegen auf. Freude und Dankbarkeit waren mit uns am Tisch. Ich konnte meiner Freundin, damals Trauzeugin, zeigen, welch feinsinnige Glückwünsche sie uns für den Hochzeitsglückwunsch aufgeschrieben hatte. „Wo habe ich diese Worte wohl abgeschrieben?" sinnierte sie.
 
Und wir meinen, dass wir diesen Text wohl erst jetzt, nach 50 Jahren gemeinsamen Lebens, verstehen können. Und so lautet er:
 
Wenn du weniger bist, als ich dich denke,
und warum ich dich liebe,
dann muss ich dich umso mehr lieben
auf dass du wirst, wie ich dich dachte
und warum ich dich liebte.
 
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