Textatelier
BLOG vom: 21.11.2012

Maxim Biller und sein „Wir“, „Man“ und „Jeder von uns“

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
„Man tut das nicht“. Wer ist „man“?Das ist die Frage. Ich bin sensibel bei Artikeln, die immer wieder dieses kleine Wort oder die Wörter „wir“, „jeder von uns“ „wir alle“ oder „uns“ benutzen.
 
Ein Beispiel dafür ist die Feuilleton-Seite 21 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (F.A.S.) vom 18.11.2012 mit der Überschrift „Wofür brauchen wir Literatur?“ Darunter steht gleich eine Antwort: „Um unsterblich zu werden.“
 
Gemeint ist die Aussage: „Wir brauchen Literatur, um unsterblich zu werden.“ Überschriften oder Headlines in Zeitungen müssen grammatisch aber nicht unbedingt richtig sein, sondern das Interesse der Leser wecken. Ich frage mich: Wer ist „wir“? Gehöre ich dazu? Auch wenn ich nicht unsterblich werden will?
 
Der Artikel ist von Maxim Biller verfasst, und darin rezensiert er den Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“ von Gaito Gasdanow, der erst 65 Jahre nach dem Erscheinen des russischen Originals auf Deutsch erschienen ist. Im Internet sind genügend Informationen über diesen Roman nachzulesen.
 
Ich war nicht wenig verwundert über den Schreibstil Maxim Billers, den er in diesem Artikel einsetzt. Er schreibt seit längerem für die F.A.S., oft eine satirische Kolumne mit der Hauptfigur eines jüdischen Schriftstellers. Daher kenne ich ihn. Sie sind meistens gut gemacht, und ich habe schon oft darüber geschmunzelt.
 
Zurück zu dem Artikel über Gasdanow. Darin fragt Biller: „Wie ist es möglich, dass dieser grosse Roman eines doppelten und dreifachen Nervenmassakers, wie es jeder von uns mindestens einmal erlebt hat, auch ohne im Krieg gewesen zu sein, fünfzig Jahre lang unbemerkt blieb?“
 
Wieso soll ich ein Nervenmassaker erlebt haben? Und das „mindestens einmal“?
 
Das wird nicht erklärt, sondern Biller gibt eine Antwort auf seine rhetorische Frage: „Unter anderem hat es damit zu tun, dass die Bolschewiken und Nazis es beinahe geschafft hätten, die Welt zu zerstören, in der er spielt.“
 
Der Roman spielt im „Dreissiger-Jahre-Paris“.
 
Biller geht noch weiter. Er behauptet, Hitler und Stalin hätten „Leute, wie den jungen Mann, wie Alexander Wolf, wie Jelena Nikolajewna und all die anderen“ um ihr „exaltiertes Leben“ beneidet. Also, die beiden Diktatoren hätten die Romanfiguren deshalb beneidet, weil sie ein Leben führten, das sie – jedenfalls nach ihren Ideologien – ablehnten.
 
Biller zitiert den Autor, der 1934 in einem Essay über russische Autoren im Exil schreibt: „Alles, was uns übrigbleibt, ist, erfundene Figuren hin und her zu bewegen …“
 
Biller lobt ihn dafür und behauptet, „Wer wollte nicht dabei sein…“ und „Wer wäre nicht gern ein kühler, anständiger Mann wie er…“ und meint damit den Protagonisten im Buch, den er vorher so skizziert: „Wie in Trance bewegt er sich durch die Monate und Jahre, so gefühllos, furchtlos und selbstzerstörerisch wie jemand, der nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren hat.“ – Ich kann auf die rhetorische Fragen nur antworten: Ich jedenfalls nicht!“
 
Biller wird später im Artikel einmal mit dem Pronomen „ich“ persönlich: „Wenn ich an Gasdanows Ende denke, bekomme ich kurz Lust, zu weinen.“ Der Autor starb „vergessen“ 1971 in München.
 
Aber im letzten Abschnitt seiner Rezension schreibt Biller wieder, als ob er wüsste, was und wer „wir“ sind, wie „wir“ denken und handeln: „Wir dekadenten Westler … . Wir lieben seine zeitgenössische Art zu erzählen … Wir bewundern Gasdanow … wir sind ergriffen davon …“
 
Und der Autor „lehrt uns…unser schönes, kaputtes Neurotikerleben zu lieben ….Er warnt uns davor, auf jene verklemmten Kleinbürgerliteraten hinter ihren silbernen Macs (!!) und schwarzroten Fahnen zu hören …“
 
Natürlich nur rhetorisch oder gab es vor 65 Jahren schon Macs? Und warum schreibt er statt „unser“ nicht „lehrt mich mein schönes kaputtes Neurotikerleben….“? Ich als Leser fühle mich nicht einbezogen in das Billersche „wir“ und „uns“!
 
„Wir“, „Man“ , „Jeder von uns“ ist bei Martin Heidegger niemand Spezielles, das „Man“ hat die Funktion der „Öffentlichkeit“. Das „Man“ suggeriert eine Vorbestimmtheit.
 
Das Man übernimmt zudem die Verantwortung für das Dasein, denn das Dasein kann sich stets auf es berufen: Das macht man eben so. Heidegger formuliert scharf: ‚Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.’“  Er nennt das „uneigentliche Fremdbestimmung“.
 
Bei dem Artikel von Maxim Biller ist mir diese Fremdbestimmung sehr bewusst geworden. Für mich ist es ein Paradebeispiel dafür, und ein Anlass, bei der Lektüre von Zeitungen und Magazinen noch mehr darauf zu achten, ob ein Autor meint, für mich, den Leser, mitargumentieren zu müssen. Auch wenn das heutzutage scheinbar modern ist, besonders seit dem „Wir sind das Volk“; und wenn ich an die Schlagzeilen, vor allem in der BILD-Zeitung, denke, wie „Wir sind Papst“; „Wir sind Deutschland“, oder die aktuelle Aktion der Katholiken „Wir sind Kirche.“
 
Ich bin ich, nicht wir!
 
Quellen
de.wikipedia.org/wiki/Gaito_Gasdanow
 
 
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