Textatelier
BLOG vom: 16.12.2012

Weihnachtskarten: Schöner englischer Brauch überlebt

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Es versteht sich, dass ich als Sammler auch alte Weihnachtskarten aus der viktorianischen Zeit zusammengetragen habe. Viele davon sind kitschig und triefen vor lauter Sentimentalität. Dennoch finde ich sie rührend. Statt neue Karten zu kaufen, klebe ich die alten Karten auf Karton – die schönsten liegen auf meinen Geschenken an meine Familie obenauf – als Erinnerungen an vergangene Zeiten, die 100 Jahre später als die Gute alte Zeit hochgejubelt werden.
 
Das stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein. Die Lords und Ladies sind sehr auf sich bedacht – auch heute noch. Sie lebten „upstairs“ (im oberen Stockwerk), ihr Dienstpersonal „downstairs“ (unten) – so wollte es die Tradition. Die Klassenunterschiede bestehen nach wie vor.
 
Selbst in der Schweiz, so lange ist es nicht her, gab es in der Eisenbahn 3 Klassen. In der 1. Klasse sassen die Wohlhabenden, inklusive die Offiziere, auf weichen Polstersitzen in gut geheizten Abteilen. In der 3. Klasse sassen die Männer, Frauen, Kinder und Soldaten auf Holzbänken im Durchzug. Hier will ich keine Sozialkritik aufwärmen, noch das Damals mit dem Heute vergleichen. Charles Dickens hat die damaligen Missstände treffend geschildert; auch Honoré Daumier hat in vielen seiner Lithografien die Gegensätze zwischen Arm und Reich ätzend gezeichnet.
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Habe ich es richtig gehört? Die Sortiermaschinen der britischen Post verarbeiten automatisch rund 40 000 Kartengrüsse pro Stunde. Es werden mehr Karten als je verschickt. Wer nicht genügend Briefmarken gekauft hat, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich geduldig vor dem Postschalter in die Warteschlange einzureihen.
 
Ich verdanke es meiner Frau, dass ich mich nicht mit Karten und Grüssen herumschlagen muss. Bloss 4 sind mir vorbehalten. Den Rest besorgt Lily und hat erst noch Freude daran. Und was sie nicht schriftlich besorgt, das erledigt sie übers Telefon kurz vor dem Neujahr. Dann erhält Lily auch viele Anrufe aus Persien – eigentlich durchs ganze Jahr. Die persische Sprache ist wie ein Perserteppich, von Ornamentik durchflochten. Das Gespräch ist von Wiederholungen in blumiger Sprache gesättigt und dauert lange, ehe es vorbei ist. Den Abschiedsformeln, ein Thema mit Variationen, entnehme ich, wie weit ihre Gespräche fortgeschritten sind. Das ist gut so.
 
Meine Mutter hat meine handgemalten Geschenkkarten in einer Schachtel aufbewahrt, mitsamt meinem Tagebüchlein aus den Sommerferien, sei es in der Schweiz oder in Belgien, die Texte mit meinen Kinderzeichnungen vermengt. In einer anderen Schachtel hat Lily die von unseren Kindern gezeichneten Weihnachts- und Geburtstagkarten aufbewahrt. Auch das ist gut so.
 
Meine alte Gewohnheit, mit Farbstiften gemalte Anhänger an Geschenke zu schlaufen, habe ich beibehalten. Aber dies besorge ich heute viel rascher als damals, flüchtiger ist der richtige Ausdruck dafür. Die Familientradition soll sich nicht verflüchtigen.
 
In der Zeit um Weihnachten werden sich unsere Söhne, wie alle Jahre wieder, bei uns einquartieren. Sie lassen sich dann wieder von ihrer Mutter verwöhnen. Am Stephanstag erscheinen ihre Freundinnen zum Mittagessen. Dann hat Lily die Hände voll zu tun. Das ist ebenfalls gut so.
 
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