Textatelier
BLOG vom: 13.12.2012

Der Raureif in Wimbledon und die alte Hochzeitstruhe

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Früher als erwartet hat uns der Raureif auf der Anhöhe in Wimbledon nachtsüber erreicht. Das Geäst der Bäume und Sträucher sind vom silbrigen Frost bestrichen. Geborgen in den Innenräumen geniesse ich diesen Ausblick durch die Fenster. Die Kälte bleibt draussen.
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Auch der Bergbauer in der Schweiz hat um diese Jahreszeit draussen wenig zu tun. Einer von ihnen hatte anno 1746 eine Hochzeitstruhe aus Arvenholz gezimmert und mit Schnitzereien verziert. Auf der linken Seite ist ein Herz mit den Initialen des Brautpaars eingelassen. „M“ und „T“ sind umrahmt. Rechts picken ein paar Hühner Körner aus der Krippe. Nach dem Hinschied des damaligen Brautpaars wurden hastig ein schmiedeeisernes Schloss eingelassen und die Truhe versiegelt. Aus der Truhe ist Erbgut geworden.
 
Melchior hiess der Sohn dieses Bauers und Trudi – von Gertrud abgeleitet – die Tochter eines benachbarten Bauers. Sie trug die Brauttracht ihrer Mutter, die zur Hochzeitsfeier geschneidert worden war. Melchior erschien im Sonntagsgewand seines Vaters. Ein Verwandter hatte dem Vater sein Sonntagsgewand ausgeliehen. So war alles zur Trauung in der kleinen Bergkirche, weiter unten im Tal, bestens bestellt.
 
Das Leben der Bergbauern war so karg wie der Boden, den sie bearbeiteten. Und entsprechend wortkarg war auch ihre Sprache. Das Tagwerk nahm seinen Verlauf, den Jahreszeiten angemessen. Ein Anbau des Bauernhauses war für das Paar eingerichtet. Die Mahlzeiten der Familie wurden gemeinsam eingenommen. 10 Jahre verstrichen. Die Eltern zogen in den Anbau ein. Melchior und Trudi mit ihren 2 Kindern übernahmen das Gehöft. Die Güter der beiden Familien wurden zusammengelegt. So war es im Voraus geplant gewesen. Jüngere Geschwister gingen dabei leer aus und wechselten ihre Bleibe. Einige Söhne wanderten nach Amerika aus. Einer fand sein Fortkommen in der päpstlichen Schweizer Garde im Vatikan. Die Töchter in der rauen Bergwelt wurden nicht nach Schönheit beurteilt. Sie mussten kräftig sein, um auf dem Hof ihren Teil leisten zu können.
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Einem solch schlichten Leben lassen sich wenig Geschichten abgewinnen, ausser dieser:
 
Melchior stürzte auf der Gemsjagd in ein Tobel. Er überlebte als Krüppel. Die Familie geriet in Not, denn Trudi konnte nicht länger allein fuhrwerken. Es galt, die Versorgungslücke zu schliessen. Wer würde einspringen?
 
Ueli hiess der Retter in der Not. Er hatte ein Heimwesen weiter unten im Tal. Er wurde bei Melchior und Trudi vorstellig und zeigte sich geneigt, mit Trudi zusammen das Anwesen als Hausvater und Verwalter zu unterhalten – gegen Anteile von Melchiors und Trudis Eigentum. Melchior und Trudi wie auch ihre Eltern waren mit diesem Vorschlag grundsätzlich einverstanden.
 
Der Gerichtschreiber schlug ihnen vorsichtshalber einen seriösen Anwalt vor, um ihre Interessen zu wahren. Dieser rechtschaffene Anwalt hatte gewisse Bedenken, die er sehr geschickt in den Kaufvertrag einschob. Ehe der Vertrag rechtsgültig werden konnte, musste Ueli 1 Jahr im Bauernhaus verbringen. Eher widerwillig erklärte sich Ueli mit dieser Vorbedingung einverstanden und sicherte sich ausserdem einen Anteil am Ertrag des Bauernguts. Aus eigener Tasche bezahlte er die Dienste von 2 Knechten, um Trudi etwas von körperlichen Mühen zu entlasten. Diese erschienen täglich frühmorgen, von Uelis Bauerngut her kommend, bestellten die Felder und sahen nach dem Vieh, ehe sie wieder, weiter unten im Tal, in Uelis Gehöft übernachteten. Ueli erhielt Kost und Logis im Bauernhaus von Melchior und Trudi.
 
Wochenlang bemühte sich Ueli um Trudis Gunst. Umsonst. Sie zeigte ihm die kalte Schulter. Eines Tages bemerkte er zu Trudi, grob mit dem Fuss gegen die Hochzeitstruhe stossend: „Das macht doch keinen Sinn mehr, derweil dein Mann verkrüppelt auf dem Schragen liegt. Ich mache Brennholz daraus.“
 
Entsetzt sprang Trudi hoch: „Schämst du dich nicht! Rühr’ die Truhe nicht an, sonst …“
 
„Jetzt drohst du mir schon“, sprang Ueli seinerseits erbost auf.
 
„Warte, ich werde dir Manieren beibringen.“ Mit Fäusten schlug er sie grün und blau.
 
„Melchior hat mich kein einziges Mal geschlagen“, schrie sie und sprang vor ihm davon.
 
Ihr blieb nichts anderes übrig als am nächsten Tag, wie gewohnt, ihre Arbeit im Hof zu verrichten. „Was ist mit dir geschehen?“ wandte sich einer der Knechte an sie. Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Wortkarg wie das Bauernvolk in diesem abgelegenen Winkel der Bergwelt auch war, hatte sich dennoch Uelis schlechter Ruf als jähzorniger Wüterich herumgesprochen, der seine Knechte wie Leibeigene behandelte. Stets auf seine eigenen Vorteile erpicht, war Ueli immer wieder in Prozesse verstrickt.
 
Der körperlich schwer behinderte Melchior konnte nichts gegen Ueli ausrichten. Aber er war nicht auf den Kopf gefallen. Als Ueli kurzfristig abwesend war, bat Melchior seine betagten Eltern, ihn auf dem Karren ins Haus seiner Braut zu transportieren. Der Familienrat bestimmte, dass Melchior schleunigst wieder in sein eigenes Haus gebracht werden müsse, denn sonst würden er und Trudi des Vertragsbruchs bezichtigt. Und so geschah es. Ueli blieb ahnungslos, wusste nicht, was sich hinter seinem Rücken abgespielt hatte. Melchiors Vater suchte gleichentags noch den Arzt und Anwalt in Glugin auf. Melchior seinerseits bat seine Frau, sich ins Bett zu legen und den Besuch des Arztes abzuwarten.
 
Ueli tobte, als er Trudi im Bett vorfand. „Du faules Luder, wenn du den Tag verschläfst, kannst du in der Nacht arbeiten“, zerrte er sie aus dem Bett. Genau in diesem Augenblick erschien der Arzt.
 
Sehen Sie, Herr Doktor, was Melchior ihr angetan hat. Man würde ihm das nicht zutrauen.“ Der Arzt blieb stumm und verschrieb Trudi absolute Bettruhe.
 
Diesmal verlor Ueli den Prozess. Das Gericht verurteilte ihn einhellig zu einer hohen Geldstrafe und drohte ihm mit Gefängnis, wenn er die Summe nicht innert eines Monats begleichen sollte. Ausserdem wurde ihm der Zugang zum Gehöft des Paars verboten. Dank dieser Summe konnten Melchior und Trude die beiden Knechte bei sich aufnehmen.
 
Ihre Hochzeitstruhe blieb bis an ihr Lebensende an ihrem angestammten Platz in der Küche. Der Ertrag des Gehöfts erhöhte sich nach und nach. Heute ist ihre Hochzeitstruhe im Heimatmuseum in Chur GR/CH ausgestellt.
 
 
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