Textatelier
BLOG vom: 26.04.2013

Gänschen und Engel: Glaube, Aberglaube und Strohhalm

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Angeblich „stirbt die Hoffnung zuletzt“. Leidende, denen die „Schulmedizin“ nicht oder nur beschränkt helfen kann, und Sterbenskranke „klammern sich an jeden Strohhalm“.
 
Viele fühlen sich berufen, diesen „Strohhalm“ und diese Hoffnung zu sein, sei es aus humanitären oder finanziellen Gründen. Sie lassen sich zum „Heiler“ ausbilden. Ich meine jetzt nicht die reguläre medizinische Ausbildung zum Arzt, dessen Ziel das Heilen ist, sondern die vorhandenen Alternativen. 
Heile, heile Gänschen,
es ist bald wieder gut.
Das Kätzchen hat ein Schwänzchen,
es ist bald wieder gut.
Heile, heile Mausespeck...
in hundert Jahr´n ‒
ist alles weg.“ 
Das sang meine Mutter uns Kindern immer vor, wenn wir weinend mit kleinen Blessuren zu ihr kamen. Wenn „das Gänschen“ heilen kann, sollte das doch zu lernen sein!
 
Beginnen wir mit der Ausbildung in der Heilpraktik. Es wird zwischen der Ausbildung zum klassischen „grossen Heilpraktiker“, der den gesamten Stoff umfasst, und dem „Heilpraktiker Psychotherapie“, der nur psychische Leiden diagnostizieren und heilen darf, unterschieden.
 
Auf der Website „MB-Training“ erfahre ich schon ganz am Anfang, dass eine Gebührenabrechnung der heilpraktischen Behandlung mit den gesetzlichen Krankenkassen (die sich jetzt Gesundheitskassen nennen) in Deutschland unmöglich ist, und auch den Grund dazu: Die Ausbildung beruht zum Teil auf wissenschaftlich nicht nachgewiesenen Methoden.“
 
Obwohl der Zugang zur Heilpraktikerschule mit einem Hauptschulabschluss möglich ist (höhere Abschlüsse sind natürlich besonders willkommen), umfasst die Ausbildung – von den Inhaltsbezeichnungen her – ein ausführliches medizinisches Wissen, etwa vergleichbar mit Inhalten in der Ausbildung zur medizinischen Assistentin (früher Arzthelferin genannt) und vielem mehr. Dieses Wissen, also die fachpraktischen Themengebiete und naturheilkundlichen Bereiche, wird amtsärztlich überprüft, und nur das sei wissenschaftlich, heisst es.
 
Die Ausbildung umfasst Therapien und Verfahren wie manuelle (mit den Händen, wie Osteopathie), invasive (Akupunktur und Injektionen), energetische „ganzheitliche“ (Bachblütentherapie und Homöopathie) sowie weitere (Psychotherapie, Farbtherapie, systematische Aufstellungen, u. a.). Und dann kann der angehende Heilpraktiker auswählen und sich am besten auf weitere „4 bis 8 Therapien spezialisieren“, die Liste ist lang: „Aromatherapie, Astrologie, Atemtherapie, Augentraining, Autogenes Training, Ayurveda, Bioenergetik, Chakra Arbeit, Craniosacral-Therapie und Osteopathie, EMDR Traumatherapie, Energiearbeit, Familientherapie, Feldenkrais, Fussreflexzonen, Geistheilung, Gesprächstherapie, Gestalttherapie, Heilfasten, Heilige Geometrie (Blume des Lebens), Kinesiologie, Krebstherapie (Heilpilze, Enzyme und Vitamin B 17), Heilen mit Edelsteinen, Logotherapie, Matrix und Quantenheilung, Polaritätstherapie, Primärtherapie, Qi Gong, Progressive Muskelentspannung, Radiästhesie, Rebirthing, Reiki, Reinkarnationstherapie, Schamanismus, Schüssler Salze, Kiatsu oder Shiatsu, Simonton Training, Tanztherapie, Trancearbeit, Vivation und Yoga.“
 
Also: „Strohhalme“ en gros! Wer da nicht geheilt wird, ist selber schuld! Oder hat da vielleicht „die Spiritualität“ gefehlt? Sollte man nicht besser zum „Engel Licht Heiler“ gehen und sich „spirituell heilen“ lassen?
 
Der Ausbildungsplan eines entsprechenden „Seminars“ liest sich beispielsweise so: „Während der spirituellen Ausbildung wird umfangreiches Wissen über das Chakrasystem, die Wirbelsäule, die Erzengel und die Seelenmeridiane vermittelt … Sie lernen während der spirituellen Ausbildung zum Engel Licht Heiler, sich mit den Energien der Engel, der Erzengel und den Elohim zu verbinden und als Kanal zur Verfügung zu stellen, um die reine kraftvolle Energie der Engel an andere Menschen weiterzugeben..Durch kraftvolle Einweihung und Öffnung der Energiekanäle sowie der Aufstiegssäule = Wirbelsäule werden Sie zu einem reinen Kanal für die Energie der Engel.“
 
Also „lasset die Engelein zu mir kommen ...!“
 
Beim www.esoterikverzeichnis.de finde ich 1100 Einträge. Die Anbieter haben folgende „Berufsbezeichnungen“: „Bachblütenberaterin, Spiritueller Lebensberater, Wahrsager, Heilpraktiker, Astrologin, Mediale Heilerin, Mentalcoach, Reiki-Meisterin, Reinkarnationstherapeutin und Rückführungsbegleiterin, Hypnotiseurin, Schamanin, Botschafterin zwischen Welten, Schreibmedium, spirituelle Lehrerin ‚Shaumbra’, Hellseher, Wendepunkt Berater für Spielregeln zwischen Mann und Frau‚ holistic coach, Schamane, Inspirator, Traumdeutungsexperte, Tierkommunikatorin, Engelmedium, Hexe, Bachblütenberaterin, Heilerin, Medium f. Verstorbenen und Schutzengelkontakte, Energieberaterin, Lichtarbeiterin, Trad. Maya-Kosmologin“, usw., usw., und das waren nur diejenigen auf den ersten 6 Seiten!
 
Bunter geht es beim www.Heil-Verzeichnis.de zu. Dort sind nach den  Angaben auf der Webseite 9500 Adressen verzeichnet. Hier findet sich der „Transformationscoach“, eine Frau, die neben Akupunktur und -pressur auch noch „Schamanismus, Bewusstsein, Energie, Spiritualität, Seele und Licht“ anbietet. Eine „Heilerin der Neuen Zeit“ empfiehlt „Lichtarbeit“ in der „Kryonschule“ mit Hilfe von Kristallen, und die „Raftan-Aktivierung“. Ich muss zugeben, ich habe nichts davon verstanden. Es heisst, der Mensch habe einen „Lichtkörper“, dieser habe wie das Weltall „Schwingungen“, die in 2 Ritualen erhöht werden müssen, um sich den Energieveränderungen der Erde für die „Neue Zeit“ anzupassen, damit man sich der eigenen „Göttlichkeit“ bewusst werden kann. Das hat übrigens mit Physik nichts zu tun, sondern es handelt sich um ein „religiöses Licht“.
 
Im Verzeichnis sind neben dem Hypnotiseur und Reikimeister auch Ton- und Mantraheiler, eine Therapeutin, die einen „Hellblau-Raum für persönliche Weiterentwicklung, Spiritualität und Kreativität“ zur Verfügung stellt, aufgeführt und ferner eine Zahnärztin, eine diplomierte Sozialpädagogin und einen Facharzt für Allgemeinmedizin, der auch noch Facharzt für „psychosomatische Medizin und psychologischer Psychotherapeut“ ist.
 
Unter den angebotenen Seminaren findet sich u. a. eine „Ausbildung in Schamanischen Heilmethoden – Seelenrückholung, Extraktion und vieles mehr“ neben einem Seminar „ Wie programmiere ich meine nahezu perfekte Gesundheit aus der Sicht der Quantenphysik?“ Es geht darum, mit Hilfe von Bilderreisen „den Kontakt zu unserer inneren Stimme und unseren Bildern zu finden und diese in heilende Bilder umzuprogrammieren.“ Das Seminar kostet für 2 Tage à 7 Stunden 260 Euro. Wie die Quantenphysik da hineinpasst, bleibt schleierhaft.
 
Also: Nicht nur das Angebot ist riesig, auch die Zahl der Anbieter. Hauptsache es klingt mysteriös und skurril und ist mit gesundem Menschenverstand nicht erfassbar. Ich zweifele, aber möglicherweise glauben die Anbieter selbst an ihre „Sendung“ und ihre „Berufung“, den Patienten helfen zu können. Im zuletzt genannten Verzeichnis stehen approbierte Mediziner und Heilpraktiker neben Angeboten mit viel Aberglauben, und der ist nicht selten: „In Deutschland gibt es heutzutage mehr Menschen, die abergläubisch sind als noch vor dreissig Jahren; das wurde bei einer Umfrage festgestellt,” lese ich auf der Website www.aberglaube.de.
 
Während viele der o. g. Berufsbezeichnungen nicht „geschützt“ sind, also sich jeder so nennen darf, ist der Heilpraktiker in Deutschland „eine geschützte Berufsbezeichnung für Personen, die nach dem deutschen Heilpraktikergesetz von 1939 in der jeweils geltenden Fassung eine staatliche Erlaubnis besitzen, die Heilkunde auszuüben, ohne über eine ärztliche Approbation zu verfügen.“
 
In der Schweiz heisst der Beruf in bestimmten Gebieten auch Naturarzt oder Naturheilpraktiker, dem allerdings invasive Therapien verboten sind, in Österreich ist der ganze Berufszweig verboten.
 
Der Heilpraktiker darf keine verschreibungspflichtigen Medikamente verordnen oder Geburtshilfe betreiben.
 
Die so schön klingende „staatliche Erlaubnis“ ist eine sogenannte „Kontrollerlaubnis“, vergleichbar mit einer Baugenehmigung, mehr nicht.
 
§ 1, Absatz 3 des Heilpraktikergesetzes sagt aus: „Wer die Heilkunde bisher berufsmässig ausgeübt hat und weiterhin ausüben will, erhält die Erlaubnis nach Massgabe der Durchführungsbestimmungen; er führt die Berufsbezeichnung ‚Heilpraktiker’.
 
Und so findet sich im Esoterikverzeichnis der Heilpraktiker bzw. im Heil-Verzeichnis neben vielen anderen „Berufsbezeichnungen“ und umgekehrt in der o. g. Therapienliste der Heilpraktiker das wieder, was die Esoteriker anbieten.
 
Für Heilpraktiker, die sich selbst „seriös“ nennen, ist das durchaus ein Problem. Sie arbeiten gewissenhaft, haben viel Wissen um Naturmedizin, werden aber oft nicht anerkannt. Kritiker bemerken, dass von Heilpraktikern häufig als „sanft“ bezeichnete Massnahmen, deren Wirksamkeit nicht nachgewiesen ist, vor medizinisch wirksamen Therapien bevorzugt würden. Zweifellos gibt es vertrauenswürdige Heiler mit vielen Kenntnissen von den Einflüssen und Kräften, die uns umgeben, und überliefertem Wissen oder neuen Erkenntnissen, die weniger Schaden als überzogene schulmedizinische Behandlungen anrichten und gute Heilerfolge vorweisen können. Oft kann nur schon das Lösen von Blockaden im Energiefluss gesundheitliche Verbesserungen herbeiführen.
 
Es wird vorgeworfen, dass Heilpraktiker untaugliche Methoden verwendeten, wie beispielsweise Pendel, Irisdiagnostik, Kinesiologie und Homöopathie. Sie setzten unkonventionelle Methoden wie etwa die anthroposophische Medizin, nicht nur begleitend zu konventionellen Verfahren ein und klärten über deren Risiken nicht auf oder beendeten solche Massnahmen nicht, wenn diese keinen Erfolg zeigten oder sich die Erkrankung verschlimmerte und sendeten den Patienten auch dann nicht zu einem Arzt“ (Wikipedia).
 
Die Arbeit der Heilpraktiker ist völlig umstritten. Weisen die einen Tester auf „gefährliche Therapeuten“ (2006 Ökotest) hin; vergeben andere, z. B. die Stiftung Warentest, 2008, positive Testnoten.
 
Wer zu einem Heilpraktiker oder einem Esoteriker geht, glaubt daran, dass er/sie helfen kann. Schon das kann zu einer Heilung beitragen, getreu dem Motto: „Glaube versetzt Berge“, und „wer’s glaubt, wird selig, pardon, geheilt!
 
Weitere Heilerfolge könnten dem Therapeuten und der Therapie zuzuschreiben sein, aber weiss man das? Oder ist die Ansicht richtig: „Egal was und wie, Hauptsache, es hilft“?
 
Ich habe bei meinen Wehwehchen festgestellt, dass einfaches Abwarten hilft und das Leiden verschwindet. Ich habe also esoterische Selbstheilungskräfte. „Selbstheilungscoach“ könnte ich mich nennen, ein Seminar ins Leben rufen. Ein Tagesordnungsthema: „Heile, heile Gänschen…“! Wäre doch gelacht, wenn ich keine gläubigen Jünger fände ...
 
Quellen
 
Hinweise auf andere Arbeiten zur Heilkunde im Textatelier.com
 
 
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