Textatelier
BLOG vom: 12.06.2013

Virtuelles Trugbild: Heute ist heute, gestern war gestern!

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
".. und plötzlich schweigt die Erde sie schweigt, so dass die Stille dröhnt dann spüre ich, dass ich mit allem einverstanden bin weil ich die Wirklichkeit für ein Trugbild nehme, für den Schatten einer anderen Welt, aus der ich gar nicht entfernt werden kann ...."
Hans Henny Jahnn
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„Eine psychologische Langzeitstudie zeigt, dass zwei Jahre nach Beginn der Krise die Welt der Wirtschaft den Deutschen zunehmend als virtuelles Trugbild erscheint, in dem belastbare Realität, Fiktion und Lüge kaum noch auseinander zu halten sind.“
Thomas Strätling und Ralf Weinen
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Daniel fühlt sich momentan in einer zufriedenen und glücklichen Situation. Er hat eine Partnerin, Lea, gefunden, von der er glaubt, dass sie zusammen glücklich sein werden. Nein, er glaubt es nicht nur, er ist davon überzeugt. Sie haben geheiratet und die Hochzeit in grossem Rahmen gefeiert. Sie beide haben Arbeitsstellen, die finanziell gut ausgestattet sind; die Arbeit füllt sie beide aus. Also: es geht ihnen gut, sie sind materiell und mental „gut aufgestellt“, wie man so sagt.
 
Sie gehen davon aus: Sie haben ein reiches und erfülltes Leben. Heute, morgen, in 10 Jahren.
 
Das war nicht immer so: Daniel ist in einer Familie aufgewachsen, in der es immer Streit gab. Sein Vater war Alkoholiker, und im Suff zeugte er ihn und seine Geschwister. Manchmal schlug er auch seine Mutter. Nach einigen Jahren trennte sie sich vom Vater, der einige Zeit danach an Leberzirrhose starb. Die Mutter ging putzen, um Daniel zu einer guten Schulbildung zu verhelfen. Er studierte mit Hilfe des Gesetzes der Bundesausbildungsförderung, kurz Bafög.
 
Doch das alles liegt fast 10 Jahre hinter Daniel. Er unterstützt seine Mutter mit ein wenig Geld, das er ihr regelmässig überweist. Er kann den Betrag verschmerzen. Er sagt, er mache es gern.
 
Manchmal bezeichnet Daniel seine Vergangenheit, besonders die Zeit mit seinem Vater, als einen bösen Traum. Viele Geschehnisse aus seinen Kindheitstagen hat er vergessen oder verdrängt. Seine Geschichte ist Geschichte. Ebenso wie Lenas. Sie will nicht an ihre denken, auch ihre Geschichte liegt in der Vergangenheit.
 
Euripides sagt: „Das Unglück vergessen, bedeutet schon die Hälfte des Glücks.“
 
Beide Partner haben, geprägt durch Erziehung, Bildung und ihren kulturellen Hintergrund, Vorstellungen von der Welt. Sie beeinflussen ihr Denken, Fühlen und Handeln. Sie sind ihre persönliche innere Abbildung der Realität. Die Partner haben festgestellt, dass sie Perspektiven auf das Leben haben, die sich ergänzen.
 
Die beiden leben jetzt. Das Leben ist schön. Sie fühlen sich grossartig. Was kann ihnen passieren? Sie haben es geschafft!
 
Oder noch nicht ganz. Daniel und Lea kaufen sich ein Haus. Die Hypothekenzinsen sind günstig und laufen über 30 Jahre. Die monatliche Zahlung ist doch nur zwei Drittel des einen Gehaltes! Jetzt fehlt nur noch ein Baby, nein, 2 Kinder sind es, die das Glück vollkommen machen!
 
Denken sie über ihre Zukunft nach? „Die Stille dröhnt…“ nur selten. Wir schreiben das Jahr 2013. Sie gehen davon aus: ein glückliches Leben liegt vor ihnen. Sie sind optimistisch!
 
Träumen oder wachen sie?
 
„Aber so wenig wir im Traum daran denken, dass uns unser Geist ein Trugbild vorgaukelt, so wenig fällt es uns im Wachen ein, die Welt für ein Trugbild zu halten …“ (Dr. Wendels Grundzüge und Kritik der Philosophien Kants, Fichtes, von Johann Andreas Wendel, 1839).
 
Beide glauben, realistisch zu sein und zu denken. Sie leben ihr Leben. Neben ihren Jobs sehen sie fern, gehen ins Kino, surfen im Internet, laden sich Apps, Musik und Filme herunter.
 
Sie unternehmen Fernreisen. Der Strandurlaub im Süden; die Erlebnisreise, gebucht im Reisebüro, mit einer Gruppe und einer festen Route durch ein exotisches Land. Wieder zu Hause, erzählen sie darüber. So wie die Menschen dort könnten sie nicht leben. Ihre Heimat ist Deutschland, ist Europa. Sie leben heute.
 
Zukunftsgedanken? Etwa Zukunftssorgen? Wozu? Das Paar geht davon aus, dass der Status quo bleibt. An Krisen aller Art wollen sie nicht denken. Sie tun etwas für Ihre Gesundheit, gehen in den Fitness-Club.
 
Daniel lebt jetzt. Warum sollte er nicht weiterhin glücklich sein? Nur manchmal beschleicht ihn so ein Gefühl. Es stürzen so viele Nachrichten auf ihn ein: Globalisierung und ihre Auswirkungen, die Finanz- und Wirtschaftskrise, Inflationsängste, Katastrophenmeldungen in der Zeitung, Filme über Eheprobleme, Kindesentführungen, Erbkrankheiten, Krebs, gesundheitliche Beeinträchtigungen aller Art, Mord und Totschlag. Arbeitskollegen scheiden aus dem Arbeitsprozess aus, der Begriff „Burn-out“ macht die Runde. Konkurrenzbetriebe melden Massenentlassungen. Aber all das hat nichts mit ihm zu tun, mit seiner Lebenssituation, ihm kann das nicht passieren.
 
Daniel und Lea glauben fest daran, dass sie glücklich sind. Lea wird schwanger. Das Leben geht weiter!
 
Denn Daniel denkt wie Lea: So wie wir jetzt denken und fühlen, unsere heutigen Überzeugungen werden sich nicht ändern! Und damit sind sie nicht allein:
 
„Eine Massenstudie von drei Universitäten, bei der 19 000 Personen im Alter von 18 bis 68 Jahren befragt wurden, beweist es zweifelsfrei: Alle, unabhängig von der Altersstufe, gehen innerlich davon aus, dass ihre derzeitigen Überzeugungen die definitiven sind, (...) dass sich ab sofort kaum noch etwas verändern wird, dass die Gegenwart endgültig ist“ („Any kind of lifetime commitment is based on your belief that you know the person you're going to be in 10 years"). Daniel Gilbert von der Harvard Universität nennt das ‚das Trugbild vom Ende der Geschichte’ und präsentiert die Studie in der Zeitschrift Science.
 
Was bleibt den Menschen anderes übrig?
 
Sigmund Freud schreibt in dem Aufsatz „Die Zukunft einer Illusion“: „... verspürt man auch einmal die Versuchung, den Blick nach der anderen Richtung zu wenden und die Frage zu stellen, welches fernere Schicksal dieser Kultur bevorsteht und welche Wandlungen durchzumachen ihr bestimmt ist. Man wird aber bald merken, dass eine solche Untersuchung von vornherein durch mehrere Momente entwertet wird. Vor allem dadurch, dass es nur wenige Personen gibt, die das menschliche Getriebe in all seinen Ausbreitungen überschauen können ...“ Freud fragt nach dem Schicksal der Kultur und nicht nach ihren Trägern! Gibt es diese Personen wirklich, oder meinen sie nur, sie hätten den Durchblick?
 
Glücklich im Trugbild leben. Es kann nur besser werden! Und wenn es schlechter werden sollte? Was geht mich die Zukunft an, ich lebe jetzt!
 
Aber: War das nicht immer schon so? Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich Gedanken über seine Zukunft machen kann. Und oft genug die Augen davor verschliesst.
 
Schon der Dichterfürst Goethe meinte: „Halte immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“
 
Und Johann Gottfried Herder: „Nicht die Wissenschaft des Zukünftigen und die Spekulation über dasselbe ist die Lection meines Lebens, sondern der Gebrauch des Gegenwärtigen. Dazu habe ich Mittel und Kräfte.“
 
Ist es für Daniel und Lea wichtig, zu wissen, ob ihr Blick auf die Welt ein „virtuelles Trugbild“ ist? Würde sich dadurch etwas ändern?
 
„Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“ (Pascal).
 
 
Quellen
 
 
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