Textatelier
BLOG vom: 27.01.2014

Gedanken über das Arbeiten und seinen Stellenwert

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Arbeiten zu müssen – ich meine den Begriff in der Bedeutung erwerbstätig zu sein – heisst für die meisten, lohn- oder gehaltsabhängig ihr Leben zu fristen. Natürlich arbeiten auch Selbstständige, jedenfalls so lange, bis der von ihnen geführte Betrieb in ihren Augen auch ohne sie läuft und so viel Gewinne abwirft, dass sie es persönlich nicht mehr für erforderlich halten. Selbstständige haben meines Erachtens in den überwiegenden Fällen mehr Chancen, einen höheren Lebensstandard zu führen und ein grösseres Vermögen anzuhäufen, als die Lohnabhängigen, die sie für sich arbeiten lassen. Selbstständige behaupten oft, mehr zu arbeiten als ihre Lohnabhängigen. Das mag in vielen Fällen zutreffen, ist aber vermutlich nicht die Regel.
 
Die Arbeit wird heutzutage häufig als etwas Positives und Erstrebenswertes angesehen. Das war historisch gesehen lange Zeit nicht immer so. Etymologisch stammt der Begriff aus dem mittelhochdeutschen arbebeit, bzw. dem althochdeutschen Wort arabeit, und das bedeutete Mühsal, Not, Beschwerde, lateinisch orbus Waise, beraubt, also beklagenswert, slawisch robot, Fronarbeit, altslawisch rabu Knecht. Der Philosoph Peter Sloterdijk weist darauf hin, dass die Wörter travail (Arbeit) und travel (Reisen) aus der gleichen Wurzel kommen, nämlich tripalium, dem dreispitzigen Folterinstrument des Mittelalters.
 
Freilich ist davon nichts zu spüren, wenn ich mir ein Zitatenbuch zur Hand nehme. Die meisten Zitate zeigen in die Richtung, wie lebenserfüllend und glücklichmachend Arbeit sei. Allerdings ist es sinnvoll, bei den Reden unserer Dichter und Denker immer zu hinterfragen, ob damit (lohn-)abhängige Arbeit gemeint ist oder solche, denen sich die Schreiber aus freien Stücken oder Berufung zugeneigt haben; ausserdem, welchen erzieherischen Appell sie damit verfolgen.
 
So ist auch zu fragen, welche Ziele mit diesen Zitaten verfolgt werden: „Wir leben, um zu arbeiten“ (Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf). „Arbeit ist die zuverlässigste Seligkeit dieser Erde“ (Ernst Wiechert).
 
Der Graf hatte sicher das Ziel, seinen Untergebenen den ihnen zugeordneten Lebensinhalt nahe zu bringen. Wiechert seinerseits argumentierte aus der protestantischen Ethik heraus.
 
Zur Notwendigkeit der Arbeit kritisch eingestellte Zitate sind vor allem von denjenigen Geistesgrössen zu lesen, die sich nicht dem jeweiligen Zeitgeist bzw. der christlichen Ethik verschrieben haben, wie z. B. Friedrich Nietzsche, der in seiner Schrift „Gedanken zur Geburt einer Tragödie“ schrieb: „Die Arbeit ist eine Schmach, weil das Dasein keinen Wert an sich hat.“ Und: „Was dürfen wir anders in der Arbeitsnot all der Millionen zu finden als den Trieb, um jeden Preis dazusein, denselben allmächtigen Trieb, durch den verkümmerte Pflanzen ihre Wurzeln in erdloses Gestein strecken?“
 
Alexander Pope (1688‒1744), englischer Dichter: „Solange wir jung sind, arbeiten wir wie die Sklaven, um uns etwas zu schaffen, wovon wir bequem leben könnten, wenn wir alt geworden sind. Und wenn wir alt sind, merken wir, dass es zu spät ist, so zu leben.“
 
Damals gab es wahrscheinlich die Altersgrenze noch nicht, bzw. die meisten der Zeitgenossen wurden nicht alt genug, um sich vom Arbeitstrott verabschieden zu können. Zur Debatte um die Verteilung der Steuern in Deutschland (bei ca. 82 Mio. Einwohnern) bemerkte Sloterdijk: „Die öffentliche Hand verteilt das der aktiven Mitte abgenommene (Steuer-)Geld nach unten – zu den Armeen der Rentner, jetzt 20 Millionen Personen, und zu den Einwohnern des verfestigten Sozialhilfe-Raumes, der hierzulande kaum weniger als 8 Millionen Personen umfasst.“
 
Darnach scheint es so zu sein, dass sich der Stellenwert der Arbeit in den Lebensbiographien verringert. Jedenfalls der Arbeit, die gezwungenermassen zur Sicherung des Lebensstandards erforderlich ist. Vielleicht hat das auch mit dem abnehmenden Stellenwert der Religion zu tun, denn Martin Luther sagte: „Wer treulich arbeitet, der betet zwiefältig (im Sinne von doppelt). Aus dem Grunde, dass ein gläubiger Mensch in seiner Arbeit Gott fürchtet und ehret und an seine Gebote denkt.“ Wer will noch Gott fürchten und an seine Gebote denken?
 
Es gibt allerdings einen weitaus gravierenderen Grund: Der modernen Gesellschaft geht die Arbeit aus. Die Produktivitätssteigerung der Industrie durch Automation und Modernisierung benötigt immer weniger Arbeitnehmer. In Zukunft benötigen wir nur noch hoch ausgebildete Spezialisten, und auch diese nur in einer bestimmten Zahl.
 
Ich zitiere aus einem Interview, das der US-Ökonom und Autor des Buchs „Das Ende der Arbeit“ Jeremy Rifkin,schon 1995 der „Stuttgarter Zeitung“ gegeben hat:
 
Frage: Aber was sollen all die Leute denn machen, wenn sie keine Arbeit mehr haben?
 
Sehen Sie, so verbogen sind wir heute. Ich sage, die Menschen werden für den Produktionsprozess nicht mehr gebraucht, und Sie fragen, was sie dann bloss machen sollen. Als ob es die Erfüllung des Menschen wäre, Tag für Tag dieselbe stupide Tätigkeit auszuführen.
 
Dasselbe Blech zu formen oder dieselben Fragen am Telefon zu beantworten. So eng definieren wir uns. Ich sage: Lasst die Maschinen das übernehmen. Aber viele Leute können sich einfach nicht vorstellen, was sie ohne Arbeit anfangen sollen. Das ist traurig.
 
Der Hinweis auf diese Website ...
... erfolgte im Diskussionsteil, der sich an den Aufsatz von Günther Lachmann auf seiner Website http://www.geolitico.de am 21.01.2014 zum Thema „Niedergang der Arbeitskultur?“ anschloss. Darin wird beklagt, dass auch gut ausgebildete junge Menschen, wenn überhaupt, nur eine gering bezahlte Arbeit finden.
 
Rifkin sieht für die nächsten Jahre eine starke Veränderung der Gesellschaft, in welcher die Zahl derer, die ein lohnunabhängiges Einkommen zu erhalten gezwungen sind, die Zahl der Arbeitnehmer übersteigen wird. Momentan sind das in erster Linie noch diejenigen, deren Bildungsniveau für den Arbeitsprozess als nicht ausreichend definiert wird, aber, wie in dem Essay von Günther Lachmann dargestellt wird, trifft es immer mehr auch diejenige Bildungsschicht, die eine (akademische) Ausbildung genossen hat, nach der die Wirtschaft nicht in ausreichender Anzahl nachfragt.
 
Finanziert werden kann das System nur durch eine Umverteilung von oben nach unten, etwa durch die Besteuerung nach Produktivität bzw. Profit, ermöglicht aber auch, dass Non-Profit-Tätigkeiten, die freiwillig sind und Freude machen, einen höheren Stellenwert bekommen.
 
Die Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen und um das Renteneintrittsalter mit 67 Jahren mit der Frage, wo denn die Arbeitsplätze für die Älteren überhaupt herkommen sollen oder die aktuelle um das Alter 63, wenn der Arbeitnehmer 45 Jahre gearbeitet (im Ruhrgebiet sagt man „malocht“) hat, gehen in diese Richtung. Noch wird die Entwicklung, dass immer weniger Menschen erforderlich sind, um die Waren herzustellen, die zum Leben gebraucht werden, von unserer politischen Führung ignoriert. Die Umverteilung und Besteuerung von Kapitaleinkommen, das unmittelbar an der Produktivität verdient, ist nicht im Interesse unserer Eliten.
 
Der Zeitpunkt wird bald eintreffen und ist teilweise schon aktuell, an dem immer weniger abhängig Beschäftigte eine adäquat bezahlte Arbeitsstelle bekommen und immer mehr Menschen mit gering bezahlten Jobs oder mit unbezahlten Praktikumsstellen vertröstet werden, unser Sozialsystem immer mehr belastet wird, die Schere zwischen Prekariat und Kapitaleinkommen immer weiter auseinanderklafft.
 
Die Situation verlangt nach Lösungen. Empfänger staatlicher Leistungen zu sein, obwohl man einer Tätigkeit nachgeht, wird immer häufiger der Normalzustand werden. Die gewählte Tätigkeit wird dann nicht mehr an der Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitnehmern orientiert sein, denn diese ist nicht vorhanden, sondern an dem Wunsch, etwas Sinnvolles für sich und die Gesellschaft zu leisten.
 
Vielleicht wird die Gewährung staatlicher Leistungen demnächst an die Bereitschaft gekoppelt werden, beispielsweise soziale Arbeit zu verrichten, ältere Menschen zu besuchen, die Lebenschancen von Kindern aus sozial schwierigen Schichten durch Nachhilfe etc. zu erhöhen, Aufgaben in der Umweltpflege wahrzunehmen, usw.
 
Viele Menschen meiner Generation (ich bin 65 Jahre alt) und ältere erfreuen sich eines arbeitslosen Einkommens und der Möglichkeit, endlich einmal das tun zu können, was „man schon immer tun wollte“, wofür aber im Berufsleben kaum oder keine Zeit blieb. Die Höhe des Zusatzverdienstes ist dabei eher nebensächlich.
 
Man könnte diese Tätigkeiten auch Arbeit nennen. Aber sie bauen auf Freiwilligkeit auf: „Jucundi acti labores. Angenehm sind die erledigten Arbeiten“, wie Cicero in seinem Werk „De finibus“ bemerkt. Ein spanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Kleine Verrichtung tut wohler als grosses Müssigsein.“ Also: Müssigkeit ist gut, und wenn dazu noch vergnügliches Tätigsein kommt, umso besser, denn „Wer immer ein Werk vorhat, das seine ganze Seele beschäftigt, der ist nie unglücklich.“ Felix Dräseke (Komponist, 1835‒1913).
 
Dass Arbeit sinnvoll und  befriedigend sein kann, werden zukünftig immer mehr Berufstätige entdecken. Sie wird nicht auf Pensionäre und einen kleinen Teil der jetzigen Arbeitnehmer beschränkt sein, sondern ein ganzes Arbeitsleben ausfüllen.
 
Quellen
Sloterdijk, Peter. „Zeilen und Tage, Notizen 2008‒2011“, Berlin 2012.
Puntsch, Eberhard: „Zitate Handbuch“, Weltbild Verlag, Augsburg 1990.
 
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