Textatelier
BLOG vom: 10.04.2014

Verkehrsplanung: Deutsche Städte zu Beginn des Autobooms

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
 
Das Auto und die Stadt – das ist der Titel für eine unendliche Geschichte. Da Innenstädte auch eine Ansammlung von Detailhandelsgeschäften und Dienstleistungsbetrieben sind, wollten insbesondere die Gewerbetreibenden den Automobilisten wenn möglich die freie Zufahrt bis vor ihre Ladentüre ermöglichen, was in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ausufernde Autobahnen gewährleisten sollten. Der Verkehr sollte durch offene Tore bis ins Herz einer Stadt vordringen und sich dort bewegen können. Noch um 1960 führten alle Strassen ins und durchs Zentrum der Kleinstadt Aarau, um ein Beispiel zu nennen; inzwischen ist die Altstadt ziemlich autoarm. Denn Autofluten können eine Stadt auch ersticken. In der Schweiz wurden die Nationalstrassen vor allem um die Städte herum gebaut. Nur Zubringerstrassen führten jenen Verkehr in die Städte, der dort sein Ziel hat; der Durchgangsverkehr wurde ferngehalten. Zürich als grösste Schweizer Stadt hat nie eine innerstädtische Autobahn gebaut. Es fehlte schliesslich auch der Platz. In Luzern verkroch sie unter die Erdoberfläche.
 
In Millionenstädten in der Autonation Deutschland präsentiert sich die Lage ganz anders. Erstens hatten die Flächenbombardements der Alliierten im 2. Weltkrieg für grosse Freiflächen gesorgt, welche die Planung erleichterten, und zweitens wurde der stadtinterne Verkehr allmählich so gross, dass die Integration einer Autobahn gerechtfertigt zu sein schien. Los Angeles hatte schon in den 1960er-Jahren 2/3 des Stadtkerns dem Auto geopfert. Deshalb stelle ich hier – sozusagen als Autobahn-geschichtlicher Beitrag – einige Überlegungen zusammen, wie sie einer Gruppe von Schweizer Fachjournalisten bei Besichtigungen des innerstädtischen Strassenbaus insbesondere in Berlin und Köln im Spätherbst 1964 vorgetragen wurde.
 
Die Lösung musste darin gefunden werden, den Durchgangsverkehr an die Peripherie zu verlegen und die Lebensfähigkeit der Städte dadurch zu erhalten, dass allein der Individualautofahrer, der dort irgendein Geschäft abzuwickeln hatte oder sein Vergnügen suchte, Zugang erhielt. Dabei sollte der Öffentliche Verkehr eine Entlastungsfunktion wahrnehmen. Es galt somit, ein friedliches Zusammenleben mit dem motorisierten Verkehr einzufädeln, indem zwischen notwenigem und beliebigem Verkehr unterschieden wurde.
 
Köln
Eine der wesentlichen Knacknüsse war der ruhende Verkehr, weshalb ich über meine Studienreise-Berichterstattung über die Verkehrsplanung in Köln den Titel setzte „Die Strasse kann nicht mehr lange als Stall dienen“ (Aargauer Tagblatt, 13.11.1964). Man hatte herausgefunden, dass der Privatwagen mindestens während rund 90 % seiner Lebensdauer stillsteht – auf Trottoirs, Strassen, Parkplätzen, Garagen. Als es noch kaum Parkhäuser gab, verstopften die parkierten Autos viele Strassen und selbst Ein- und Ausfahrten von Nebenstrassen. Ein erstes Mittel, das eine gewisse Säuberungsaktion bedeutete, war das Aufkommen der Blauen Zonen, eine zeitlich beschränkte Parkdauer.
 
Einige der hier festgehaltenen Gedanken stammen vom damaligen Kölner Stadtplaner, Dr. Heinrich Kleppe. Er zeigte uns Journalisten auf, wie sich Köln, das gerade wieder die Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit (rund 800 000, nach dem Krieg: 104 000) erreicht hatte, bemühte, alle anstehenden Probleme in schwungvoller Fortschrittlichkeit zu lösen. So waren in Köln bis gegen Ende 1964 bereits 13 meist unterirdische Parkhäuser mit total 6700 Parkplätzen erstellt worden. Der Wiederaufbau wurde erstaunlich kraftvoll vorangetrieben; so entstand kurz vor unserem Besuch in Köln eine Schweizer Ladenstadt: ein gläserner Bazar mit 69 klimatisierten Geschäften unter einem Dach, in den ein Parkhaus mit 600 Abstellplätzen einbezogen war.
 
Laut Planer Kleppe gehören grundsätzlich Behörden, Verwaltungen, Banken, Versicherungen, Detailhandelsgeschäfte und ähnliche Institutionen in die Innenstadt, die auch am Abend belebt sein sollte: durch eine Verflechtung des Geschäfts- und Kulturlebens. Die zusätzlich verdichtenden Hochhausbauten im Stadtkern bezeichnete er als schlechte Lösung – oft entstünden sie aus dem Glauben heraus, dass sich die Bedeutung einer Stadt durch die Höhe ihrer Bauten manifestiere, „ein Höhenflug, der die Realitäten auf der Erde nicht berücksichtigt“ (Kleppe). Dadurch werde auch leicht das verkehrstechnisch vertretbare Maximum überschritten. Somit plädierte er für die die Betrachtung der Beziehungen zwischen Gebäuden, der Verdichtung und des Verkehrs. Doch der Hochhaus-Wildwuchs, meist ohne Gesamtplan und sorgfältige Einbettung, ist gerade heute, 2014, im Schwange ... Manhattan ist bald überall, in Asien sowieso. London plant oder baut sozusagen aus dem Stegreif zurzeit 236 Hochhäuser. Davon erhalten 33 dieser Hochhäuser zwischen 40 und 49 Stockwerke, 22 sogar mehr als 50 Stockwerke. Und 80 % davon sind nicht für Büros, sondern für Wohnungen bestimmt. Eine umfassende Stadtplanung gibt es nicht. Insgesamt 8.3 Mio. Menschen wohnen hier.
 
1963 war in London gerade der Conin-Buchanan-Report „Traffic in Towns“ (Verkehr in Städten, Buchanan et. al 1963) erschienen, der zu einem bedeutenden Verkehrsplanungsleitbild in Städten, das heisst, über den Stadtumbau (bzw. -aufbau) unter den Gesichtspunkten des Autoverkehrs, wurde, aber am Entstehungsort London offenbar keine nachhaltige Wirkung entfaltete. Darin steht zu lesen: „Grosse Werte stehen auf dem Spiel. Es geht nicht um die Erhaltung einiger alter Gebäude, sondern darum, einen grossen Teil des Erbes Europas vor dem Ansturm des Kraftverkehrs zu bewahren.“
 
Das ist seither kaum gelungen. Der Verkehr wurde mit den Jahren und Jahrzehnten zur dominanten Grösse; das Zirkulationsbedürfnis scheint kaum zu bändigen zu sein. Die späteren Planer haben dem zu wenig Rechnung getragen, Wohnen und Arbeiten weit auseinander gerissen, die Folgen unterschätzt. Die Menschenmenge wuchs, und dann wurde noch der Globalisierungsunfug mit seiner monotonen Eine-Welt-Philosophie in Szene gesetzt, was hirnrissige globale Güterbewegungen auslöste, ein Länder und Kontinente übergreifendes Hin-und-Her-Gekarre auf der Suche nach den günstigsten Produktionsstandorten.
 
Der Verkehr ist für die Verkehrsteilnehmer, die ihre Stunden in Staus verplempern, und für die von Abgasen und Lärm Betroffenen gleichermassen zu einer Dauer-Tortur geworden. Der unablässige Strassenbau zerstörte Landschaften, auch durch die Erschliessung abgelegener, schwer zugänglicher Gebiete. Er wird heute als Naturereignis hingenommen, ertragen, finanziert, und die Politik hat das zusammenhängende, übergreifende Denken und Planen vergessen, von dem damals in Köln noch gesprochen wurde. Die weitsichtigen Planer sind inzwischen garagiert oder verstorben. Man beschränkt sich darauf, die noch verbliebenen Löcher zuzupflastern bzw. unter Asphalt zu begraben.
 
Düsseldorf
In Düsseldorf, das sich ebenfalls mit dem Verkehr herumschlug, tönte es im zeitigen Frühjahr 1965 ähnlich; der TCS hatte ein reichhaltiges Informationsprogramm vorbereitet.
 
Damals hatte sich Düsseldorf, die Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen, bereits zu einem wichtigen Zentrum der Industrieverwaltung entwickelt – man sprach vom „Schreibtisch des Ruhrgebiets“. Das war erstaunlich, denn im 2. Weltkrieg, vor allem 1943, bombardierten die Briten mit ihrer Royal Air Force Innenstädte grossflächig, so auch in Düsseldorf (und Köln); solche Flächenbombardements, die nichts mit Moral zu tun hatten und alles Leben auslöschten, wurden euphemistisch als Moral-Bombing-Strategie bezeichnet. Die Zerstörungswut der Briten, vor allem beim schwersten Angriff vom 12.06.1943, verwandelte den historischen Stadtkern, die Innenstadt und weitere angrenzende Stadtteile von Düsseldorf in Schutt und Asche; Tausende von unschuldigen Menschen, die hier gelebt hatten, verloren das Leben oder wurden schwer verwundet.
 
Vor diesem Hintergrund ist es kaum zu fassen, dass schon 1948/49 in Düsseldorf ein zukunftsweisender Neuordnungsplan vorlag, in den mannigfaltige Verkehrs- und Strassenbaumassnahmen einbezogen waren, darunter eine Stadtautobahn, eine 45 m breite Parallelstrasse zur Berliner Allee, eine ebenso breite Verkehrsstrasse unter dem Hauptbahnhof hindurch, eine Umgehungsstrasse für die Innenstadt, eine neue Rheinbrücke, Parkplätze, Parkhäuser usw. Bis Ende 1964 waren in Düsseldorf bereits 350 Mio. DM in solche Bauten investiert worden. Und das Zentrum innerhalb einer Fabrik- und Kamin-Landschaft machte einen aufgeräumten Eindruck – in jeder Bedeutung dieses Worts. Vor allem fielen uns Schweizer Besuchern, an kleinere Dimensionen gewöhnt, die Hochstrassen an den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten auf (Jan-Wellem-Platz, Mörsenbroich). Und nun ging es darum, den öffentlichen Nahverkehr zu fördern – mit U-Strassen, U-Bahnen und Schnellstrassen. Die Hauptschwierigkeiten waren nicht baulicher, sondern finanzieller Natur.
 
Der Düsseldorfer Verkehrs und Stadtplaner Prof. Friedrich Tamms sagte bei unserem Besuch: „Da unsere Städte Mittelpunkte unseres gesamten nationalen – nicht nur des kommunalen – Lebens sind, erwächst aus ihrer Problematik über die kommunale Aufgabe hinaus eine von allgemeiner Bedeutung. Es wäre daher zu wünschen, wenn alle diejenigen, die über öffentliche Haushaltungsmittel zu verfügen haben, diese allgegenwärtige Aufgabe als die ihrige erkennen und anerkennen würden“ – ein Wink mit dem Zaunpfahl. Tamms wies auf die enormen Produktionszahlen der aufblühenden Autoindustrie und das damit entstehende Missverhältnis zur Strassenfläche hin; der zukünftige Autobesitzer müsse sich als ein vom Autoverkäufer Betrogener fühlen. Das Äquivalent zur Autoproduktion – nämlich der Strassenbau – werde einfach auf die öffentliche Hand abgewälzt, und diese werde nicht mehr in der Lage sein, einen schritthaltenden Strassenbau vorzunehmen. Der Widersinn liege also im progressiven Auseinanderklaffen von Auto- und Strassenbau, sagte der Planer. Und in weiser Voraussicht fügte er bei: „Die Autos versperren sich gegenseitig den Raum und hindern sich am Fortkommen“ (dazu mein Bericht im Aargauer Tagblatt vom 10.02.1965).
 
Wenn ich jetzt, gut 50 Jahre später, von den täglich am Radio mehrmals durchgegebenen Staumeldungen belästigt werde, muss ich ihm Recht geben. An sich wäre es schön, wenn Vernunft und Verzicht zur Lösung beitragen würden – doch darauf kann man lange warten. Bereits sind auch noch die Bahngeleise verstopft, und kaum jemand will wahrhaben, wie beschwerlich und zeitraubend das Reisen geworden ist. Das notwendige und das freiwillige Pendeln gehen weiter. Die Wohnlichkeit hat sich ins Innere der Autos als mobiler 2. Heimat verlegt.
 
Ich kann mir Gemütlicheres vorstellen.
 
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