Textatelier
BLOG vom: 04.05.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (4)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Die Lektüre der „Lebensbeichte“ zog mich immer stärker in ihren Bann. Ich hatte bisher die unterschiedlichsten Texte, Romane und Abhandlungen gelesen, aber eine solche Geschichte war mir bisher noch nicht untergekommen.
 
Ein junger Mann gerät in den Sog eines Sonderlings. Dieser gesteht eine Tat, die als eine der ungeheuerlichsten des menschlichen Daseins bezeichnet wird: die bewusst eingegangene Sexualbeziehung zu seiner Mutter. Der Mythos des Ödipus fiel mir ein; aber war es das wirklich? Der Vorgang, wie ihn Egon berichtet hatte, geschah nicht aus der Unkenntnis der Person heraus, zu der der Sohn eine geschlechtliche Beziehung eingegangen war, sondern aus dem Wunsch, einander noch näher zu sein, als dies zwischen Mutter und Sohn von Geburt her schon war, und noch näher kann nur der bewusst und willentlich eingegangene Geschlechtsverkehr sein. Hier kreuzten sich Mutterliebe und Partnerliebe. Wäre der Sohn noch minderjährig gewesen, könnte man den Vorgang als Missbrauch einstufen. Hier geschah er aber, so interpretierte ich das Geschehen, freiwillig, ohne Zwang. Mutter und Sohn hatten sich allen Konventionen entzogen, hatten sich mit dieser Beziehung ausserhalb der Gesellschaft gestellt.
 
Mir fiel ein Text von Alexander Mitscherlich ein, mit der Überschrift „Ödipus und Kaspar Hauser – Tiefenpsychologische Probleme der Gegenwart“. Er schreibt darin zur Frage „spezifischer Humanität“:
 
Es geht darum, dass der Mensch von allem Anfang an mehr als nur leiblich gesättigt werden muss, dass die Fähigkeiten seiner Anlage durch das Überströmen mitmenschlichen Empfindens erst ihre geschichtliche Form gewinnen. Mit anderen Worten, die Versagung, die in jeder Kultur der ursprünglichen Triebhaftigkeit entgegengestellt wird, muss ihren Ausgleich finden in der Gewährung, in dem Herzen anderer beheimatet sein zu dürfen.“
 
Mutter und Sohn hatten sich über „die Versagung“ gestellt und ergänzend zum Gefühl der biologischen Zusammengehörigkeit.
 
Ich glaube nicht, dass der Schreiber der „Lebensbeichte“ sich zu dem Zeitpunkt solche Gedanken gemacht hatte oder sogar die Texte von Sigmund Freud oder Alexander Mitscherlich zur Inzucht-Problematik gekannt hat. Er war von dem Wunsch beseelt, die menschliche Seele kennenzulernen, vielleicht sogar mit dem mehr oder weniger unbewussten „koste es was es wolle.“
 
Gespannt nahm ich mir die Lektüre des 7. Blattes vor.
 
Zu der Zeit wohnte ich noch im Haushalt meiner Eltern. Der Wunsch, auf eigenen Füssen zu stehen und sich eine eigene Wohnung zu nehmen, wurde grösser. Ich teilte meine Erlebnisse schon lange nicht mehr mit meinen Eltern. Was ich machte, ging sie nichts an. Meine Mutter spürte das und auch, dass eine Veränderung in mir vorging. Sie fragte, wo ich denn meine Freizeit verbringe, wenn ich nicht zu Hause war. Ich berichtete nur kurz, dass ich jemand kennengelernt hatte und öfters mit ihm zusammen war. Mehr sagte ich nicht, und meine Mutter ahnte, dass sie auch nicht mehr aus mir herausbringen würde. Sie warnte nur, ich sollte genau überlegen, ob dieser Umgang das Richtige für mich sei und hängte noch die Lebensweisheit an, die für ihr Leben bestimmend gewesen war: ,Du weisst doch, wer die Gefahr sucht, kommt darin um!’ Ich weiss nicht mehr, was ich ihr damals erwidert habe. Jedenfalls sah ich keine Gefahr für Leib und Leben für mich in dieser Beziehung.
 
Eines Tages beschlossen mein Freund und ich, an einem der nächsten Tage gemeinsam ins Theater zu gehen. Es würde spät werden, und so vereinbarten wir, dass ich die Nacht bei ihm verbringen würde. Ich war zwar bereits volljährig, wollte aber nicht, dass sich meine Eltern Sorgen machten und informierte meine Mutter nur darüber, dass ich erst am nächsten Tag wieder nach Hause kommen würde.
 
Es war das Stück von Bertolt Brecht ,Mutter Courage und ihre Kinder', die Geschichte von der Marketenderin, die dem schwedischen Heer im Dreissigjährigen Krieg auf ihren Raubzügen durch die deutschen Lande folgt und dabei zusieht, wie ihre 3 Kinder durch die Kriegsgeschehnisse zu Grunde gehen.
 
Es war also ein Stück, dem ich die unsinnige Interpretation ,negative Mutterliebe’ gab und mich an das Brechtsche Gedicht erinnerte, dass so begann: ,Was nützt die Güte, wenn die Gütigen sogleich erschlagen werden oder es werden erschlagen Die zu denen sie gütig sind.’
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An diesem Abend diskutierte ich mit Egon bei ihm zu Haus das Stück und das, was man unter dem Begriff ,Güte' versteht. Waren wir einander ,gütig', wohlwollend, freundlich und nachsichtig? Wir waren der Ansicht, dass wir das wirklich waren.
 
Egon hatte nur eine Schlafmöglichkeit, und so legten wir uns gemeinsam in sein Bett. Er begann mich zu streicheln. Ich hatte noch nie an eine sexuelle Beziehung zu einem Mann gedacht, hatte das Thema ,Homosexualität' nur interessiert nachgelesen und zugehört, wenn darüber gesprochen wurde. Egon sagte, eine Beziehung unter Männern müsse nicht auch ein Eindringen in den Körper des anderen bedeuten. Es könne auch nur gegenseitiges Masturbieren sein. Wir taten es. Es war mir eher unangenehm. Ich war von meiner Natur aus nicht auf gleichgeschlechtliche Beziehungen ausgerichtet. Danach schliefen wir beide ein. Am nächsten Morgen frühstückten wir noch miteinander. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht kamen nicht mehr zur Sprache, beide fühlten, dass es bei dieser einen Begegnung bleiben müsse, wollten wir noch weiter miteinander umgehen.
 
Die nächsten Treffen liessen mich erkennen, dass Egon Charakterzüge aufwies, die krankhafte Züge zeigten. Ich hatte meine persönliche Auffassung von dem, was ich noch als ,normal’ akzeptieren konnte, schon sehr weit ausgedehnt. Aber das Verhalten, das jetzt zum Vorschein kam, war es nicht mehr. Egon hatte sich um den Posten eines Schulhausmeisters beworben. Er beschrieb mir ihn als eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit, bei der die einstellende Behörde den Bewerber sehr genau unter die Lupe nehmen würde. Kurzum, Egon fühlte sich dauernd beobachtet und verfolgt. Er glaubte, seine Post würde geöffnet werden, bevor er sie selbst aus dem Briefkasten nehmen konnte. Die Nachbarin stellte ihm Lebensmittel vor die Tür, die seiner Meinung nach bewusst verdorben waren, nur um ihn und seine Reaktion darauf zu prüfen.
 
Dann begann er, an mir zu zweifeln. Ich sei auch von der Behörde gesandt, habe ganz gezielt seine Bekanntschaft gesucht. Die Behörde wisse wohl schon alles von ihm, denn ich würde mir meine Spitzeltätigkeit durch ausführliche Berichte bezahlen lassen.
 
Ich erkannte, dass Egon hochgradig an Verfolgungswahn ,litt'. Hatte seine psychische Verfassung etwas mit seiner Vergangenheit zu tun? Was würde die nächste Stufe sein? Würde er bei einem unserer Treffen auf mich losgehen?
 
Eines Tages verabredeten wir uns zu einer Wanderung entlang des Kanals, der den nördlichen vom südlichen Teil der Stadt teilte. Wir liefen am Ufer entlang, beobachteten die Lastkähne, suchten Pflanzen, um sie zu bestimmen, rannten um die Wette. Alles schien normal zu sein. Wir vergnügten uns. Es war am Vorabend des Ostersonntags. Langsam begann es zu dämmern, und die Passanten, die uns begegneten oder überholten, wurden seltener. Wir näherten uns einer Fussgängerbrücke, die durch eine Bogenbrücke aus Stahl überspannt war. Der Fussgängerweg verlief darunter. Egon war in einer seltsamen Stimmung. Er sagte, er wolle nicht einfach den Weg benutzen, sondern den Kanal überqueren, in dem er über den Stahlbogen klettere. Die Warnung meiner Mutter kam mir in den Sinn. Es war gefährlich und wenn man dort abstürzt, könnte das den Tod bedeuten.
 
Ich lehnte das Ansinnen für meine Person ab. Egon kletterte. Er konnte sich rechts und links am Rand festklammern und bekam noch zusätzlichen Halt durch die Köpfe der Stahlstifte, die den Eisenbogen hielten. Ich blieb unten stehen und sah ihm zu. Den ersten Meter stützte ich ihn ab. Er kletterte zuerst auf meine gefalteten Hände, dann auf meine Schulter, alles sehr langsam, denn es war steil und mühsam. Dann ging es auf allen Vieren weiter, bis er oben auf dem Bogen war. Er richtete sich auf und stand, der Halbbogen unter ihm; darunter verlief die Brücke und unter der Brücke der Kanal. Er hatte es geschafft, er hatte sich zur Spitze emporgearbeitet! Triumphierend riss er seine Arme nach oben und rief mir etwas zu. Klirrend fiel etwas auf den Stahl, auf dem er stand. Dann geschah es: er schwankte, versuchte sich noch zu halten, rutschte aber ab, fiel kopfüber nach unten. Sein Kopf schlug am Brückengeländer hart auf, und er stürzte in den Kanal. Ich war wie gelähmt und starrte auf das Wasser. Er versank und war verschwunden.
 
Ich wusste, wenn die Aussentemperatur kaum über dem Gefrierpunkt war, hatte er keine Chance, zu überleben. Ich schaute mich um. Es war niemand zu sehen. Langsam ging ich zurück und fuhr mit der Strassenbahn nach Hause.
 
Ein paar Tage später las ich eine Meldung über eine Wasserleiche im Kanal. Man hatte den Fall untersucht und einen Schlüsselbund oben auf dem Brückenbogen gefunden. Es wurden Zeugen des Vorfalls gesucht. Eindrücklich wurde vor einer Wiederholung gewarnt. Leichtsinn könne schnell das Leben kosten. Hätte ich ihn retten können?
 
Damit endete das 7. Blatt der „Lebensbeichte“. Was hatte der Autor nicht alles erlebt! Ob er darüber jemals geredet hat? Es hatte den Anschein, dass er seine Erlebnisse sein Leben lang für sich behalten hätte, bevor er sich entschloss, sie aufzuschreiben.
 
Fortsetzung folgt.
 
 
Quelle
Mitscherlich, Alexander: „Ödipus und Kaspar Hauser: Tiefenpsychologische Probleme der Gegenwart“. In: „Der Monat“, Kulturzeitschrift, 3. 1950, S. 11‒18.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Lebensbeichte-Blogs
23.04.2014: Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (3)
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