Textatelier
BLOG vom: 08.08.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (11)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Er hatte es also getan, passive Sterbehilfe geleistet. Er erwähnte, dass die Tat sein Leben verändern würde. War ihm in diesem Moment schon bewusst, was er angestellt hatte? Er hatte dazu beigetragen, dass jemand die Möglichkeit erhielt, sich umzubringen. Der Onkel hatte das Leben bald hinter sich. Er musste mit dieser Tat weiterleben. Das folgende Blatt trug die Nummer 14. Gespannt las ich weiter:
 
„Ich lief dem Feldweg entlang. Eine Amsel flötete ihr Lied, und ich dachte daran, dass dieser Gesang dem Onkel nie wieder zu Ohren kommen würde. In diesen Momenten würde er die Welt verlassen, sein Gastspiel auf Erden war vorbei. Ich hatte nie darnach gefragt, wie alt er war; ich schätzte ihn auf Ende 40. Eigentlich kein Alter, in etwas mehr als einem Jahrzehnt habe ich es auch erreicht. Oder auch nicht. ,Rasch tritt der Tod den Menschen an’, heisst es im Gedicht ,Barmherzige Brüder’ von Friedrich von Schiller. Niemand weiss, wann das sein wird.
 
Ich lief zum Bahnhof und nahm den Bus, der in die Richtung der Insel Mainau fuhr. Das Hotel lag in unmittelbarer Nähe zur Insel in Litzelstetten (Ortsteil von Konstanz D). Der Onkel hatte Humor, es hiess ,viva hotel paradies island'.
 
Ich musste schmunzeln. Ich meldete mich an, brachte meinen Rucksack ins geräumige Zimmer. Ich verliess das Hotel wieder, und in 20 Minuten war ich auf der Blumeninsel. Gedankenverloren wanderte ich zwischen der Blumenpracht umher. Der Duft der Rosen betäubte meine Sinne. Im Restaurant genoss ich eine Tasse Kaffee.
 
,Nach vorne schauen', ging mir durch den Sinn. So seltsam alles auch war, ich freute mich auf den Abend und auf die Nacht mit Elisabeth.
 
Ich begab mich zurück ins Hotel, legte mich auf das Bett und wartete."
 
An dieser Stelle war ein Zitat aus der Schrift von Fjodor Michailowitsch Dostojewski angefügt:
 
„Es wurde mir immer schwerer und elender zumute. Die Bilder des vergangenen Tags begannen irgendwie von selbst, ohne mein Zutun, wirr durch mein Gedächtnis zu ziehen.“
 
Ob das ein Hinweis auf seine Gefühle war? Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass so ein Erlebnis ohne anschliessende Emotionen verarbeitet werden kann. Er ging aber in diesem Augenblick nicht näher darauf ein, sondern schrieb seine Lebensbeichte weiter:
 
„Es klopfte an der Tür. Elisabeth trat ein. Sie legte ihre Sonnenbrille ab, und ich sah, dass sie geweint hatte. Ich stand auf und nahm sie in den Arm. Ich sagte nichts.
 
Sie legte sich neben mich aufs Bett. ‚Ich muss dir erzählten, was passierte, als du gegangen warst.’
 
Es sprudelte förmlich aus ihr heraus. Sie musste reden. Ich merkte, es war ihre Art, sich mit den Geschehnissen zu arrangieren.
 
Er war ganz friedlich; er war ganz ruhig eingeschlafen. Seine Augen waren geschlossen, sein Mund zeigte ein zufriedenes Lächeln, als ob er sagen wollte, dass es endlich vorbei sei.
 
Er war während der letzten Jahre die Hauptperson in der Familie. Nachdem er den Schock seiner Lähmung überwunden hatte, bestimmte er unser Leben. Er erledigte viele Dinge direkt, per Telefon, per Tonband. Sein Tod war eine einzige Inszenierung. Du hast ja nur einen kleinen Teil davon erlebt.
 
Nachdem der Tod eingetreten war, rief mein Vater den Hausarzt, der auch ihn betreut hatte. Er kam und untersuchte ihn. Er stellte fest, dass es nicht ein einfacher Herzschlag oder ähnliches war, durch den er den Tod gefunden hatte. Der Arzt sagte, er sei gezwungen, bei einem sogenannten unnatürlichen Tod die Polizei einzuschalten.
 
Mein Vater sagte, bevor er das tue, sollte er hören, was der Verschiedene dazu zu sagen hat. Der Arzt schaute verwundert auf, aber mein Vater stellte das Tonbandgerät an.
 
Ich hörte die Stimme meines Onkels, irgendwie gruselig. Mein Onkel hat ins Mikrophon gesprochen:
 
,Lieber Herr Doktor! Sie haben festgestellt, dass mein Tod kein gewöhnlicher, in Ihren Augen kein normaler Tod war. Bevor Sie irgendwelche Schritte einleiten, bitte ich Sie herzlich, mich anzuhören.'
 
Dann berichtete mein Onkel von seinem Suizid, allen Überlegungen und Vorbereitungen dazu. Er schilderte die letzten Minuten und dass es ein selbstbestimmter Freitod war. Er erwähnte dich, der ihm den Todestrank gereicht hatte und seine Entscheidung, ihn zu schlucken.
 
Dann fuhr er fort, und ich versuche, den Text wörtlich wiederzugeben: ,Sie haben sicher von Prof. Julius Hackethal und von seinem Verfahren gelesen und dass er freigesprochen worden ist. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, was passiert, wenn Sie die Polizei informieren. Jedes einzelne Familienmitglied wird vernommen werden. Es beginnen Untersuchungen darüber, wer das Gift besorgt hat, wer das Beruhigungsmittel beschafft und gereicht hat, wer das Gift in den Becher getan hat, wer es mir zum Trinken hingeschoben hat. Für die Presse wird das ein gefundenes Fressen. Nicht nur die Familie, die Nachbarn, Bekannte und Freunde, der Ort werden eine Zeitlang bedrängt. Die Boulevardblätter werden von der Selbstmordfamilie schreiben, von dem Komplott, von Bestien, von Habgier und was für Beschimpfungen und Vorurteile den Schmierblättern so einfallen. Die Sensationsblätter werden Sokrates herauskramen, werden es ein Todesurteil durch Gehirnwäsche nennen.
 
Sie selbst werden bedrängt werden, sie hätten etwas merken müssen, als Sie mich behandelt haben. Kurz, es wird ein Hexentreiben werden. Ganz ehrlich: Wollen Sie das wirklich? Ich werde davon nicht wieder ins Leben geholt. Meine Familie wird bedrängt werden; es kann sogar zur Untersuchungshaft kommen. Mein Schwager wird seine Arbeit verlieren, meine Nichte auch. Wollen Sie alle ins Elend stürzen?
 
Ich bitte Sie, nehmen Sie sich ein Herz, springen Sie über Ihren Schatten und schreiben Sie einen Totenschein aus, der als Todesursache Herzversagen angibt. Über die Geschehnisse hier im Haus wird kein einziges Wort nach aussen dringen. Ich meine, das gebietet die Vernunft. Und ich kenne Sie als vernünftigen Menschen. Ich danke Ihnen für alle Behandlungen, die mir geholfen haben, weniger Schmerzen zu fühlen. Ich bitte Sie ganz herzlich, entscheiden Sie in diesem Sinne!’
 
Elisabeth hielt inne. Ich fragte sie, wie der Arzt entschieden habe. Es werde keine Untersuchung geben. sagte sie. Der Arzt habe Herzversagen attestiert. Auch nach Dir würden sie nicht suchen!
 
Und jetzt habe ich Hunger! Lasst uns essen gehen! Sie sprang auf."
 
Man hätte meinen können, dass mir nach dieser Darstellung ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Ich spürte keine Erleichterung, ich war schon vorher davon überzeugt, dass die Polizei mich nicht finden würde. Und: Der Onkel hatte den Tod selbst herbeigeführt, was hatte ich schon gross dazu beigetragen?
 
 
Fortsetzung folgt.
 
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