Textatelier
BLOG vom: 28.10.2014

Von der Knospe zur Lebensblust – bis die Blüten welken

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
 
Der Mensch in voller Lebensblust hat Kraft und Saft, und er entfaltet sich im Getümmel der Pflichten, so gut er es vermag – jeder auf seine Art, den Umständen entsprechend. Pflichten? Seine Freizeit ist heute mehr und mehr eingeschränkt. Nur gewiegte Lebenskünstler wissen, wie sie von ihren Pflichten Freude abzweigen können – selbst Frondiensten. Soweit habe ich es nicht gebracht ...
 
Letzte Woche kehrten wir von einem Abstecher nach Paris heim. Am Samstagmorgen erreichten wir mit dem Funiculaire die „Sacré Coeur” (das imposante Wahrzeichen von Paris auf dem Hügel von Montmartre) und durchstreiften den „Place du Tertre” (Platz des Erdhügels).
 
Touristen aus aller Welt, Alt und Jung, hatten sich an diesem herrlichen Sonnentag dort eingefunden. Ihre Gesichter widerspiegelten Lebensfreude. Wir setzten uns nach dem Rundgang draussen vor der Türe eines Bistros und stärkten uns mit Kaffee. Ein Porträtmaler skizzierte ein junges Mädchen. Sie trug ein buntes Beret und stand regungslos vor ihm. Ihre Augen waren fest auf den Strassenkünstler gerichtet, und sie lächelte rührend sanft. Ich verglich sie mit einer Knospe, die sich zu öffnen anschickt. So entfaltet sich ein junges Menschenleben in heiler Umwelt. Und so sollte es für alle Kinder sein.
 
Nachher entkamen wir dem Gedränge gleich um die Ecke (12 rue Cortet). Ich kannte diese Oase der Ruhe von früheren Streifzügen. Dort ist heute, im ältesten Gebäude von Montmartre, ein Museum eingerichtet. Es war der einstige Treffpunkt von Künstlern, worunter Auguste Renoir, Suzanne Valadon, Raoul Dufy. Der dreigeteilte Hintergarten am Hang ist Renoir gewidmet und eröffnet einen weiten Ausblick über Paris. Knapp ein Dutzend Besucher knipsten Fotos. Solche Orte der Besinnlichkeit erwecken Freude, ganz besonders, wenn man sie mit der Familie und Freunden teilen kann.
 
Oft verstellen wir uns selbst den Weg zur Freude. Ich zitiere hier Johann Peter Uz (deutscher Poet 1720‒1796)* zum Thema „An die Weisheit” (gedruckt 1790): 
So leite mich im Labyrinth
Des Lebens, wo, durch Irrthum blind,
Sich mein Verstand verliert,
Wenn sie die Nebel nicht zerstreut,
Und mich durch die Dunkelheit
Zum Glück und Guten führt. 
Immer wieder stelle ich fest, dass die Leute besser sind als ich glaube. Vom Bahnhof St. Pancras mussten wir ausgerechnet zur Stosszeit mit unserem Gepäck die U-Bahn besteigen. Jemand half uns entgegenkommenderweise beim Einsteigen. Wir konnten den Haltgriff erfassen. Zweimal wurden uns Sitzplätze angeboten, auch von einer jungen Frau, deren Fuss in einem chirurgischen Schutzschuh steckte. Wir dankten, lehnten die Angebote jedoch ab. Ich beugte mich vor und sagte zur netten jungen Frau: „Sie sind die letzte Person, die uns ihren Platz abtreten sollte”, gegen ihren Fuss deutend. Daraus entwickelte sich ein Gespräch mit ihr.
 
Immer wieder sind es Kleinigkeiten, die das Leben verschönern, allem voran gegenseitige Höflichkeit und Entgegenkommen! Auch ein freundliches Lächeln oder ein scherzhaftes Wort entspannt. Zum Glück habe ich das entdeckt, als ich noch in voller Lebensblust war … Zum Schimpfen und Rügen gibt es immer noch genügend guten Grund im Weltengang, wo Machtmissbrauch und Materialismus vorherrschen und die Demokratie versandet.
 
* Hinweis: Zitat aus Uz Werke, 2. Teil, W.A. Schrämbl, Wien, 1740 publiziert
 
 
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