Textatelier
BLOG vom: 30.10.2014

Deutsch als Fremdsprache und Politik am Beispiel Indien

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
So national das Bildungssystem in Deutschland mit eigenständigen Schulministerien in jedem Bundesland und unterschiedlichen Lehrplänen und Schulformen ist, so organisiert ist es in anderen Ländern auf der ganzen Welt.
 
Deutschland ist einwohnermässig ein relativ kleines Land, besonders wenn man es zum Beispiel mit Indien mit seinen etwa 1.2 Milliarden Einwohnern vergleicht. Das Bildungssystem in jenem Land zu durchblicken, bedarf eines besonderen Studiums. Sehr grob betrachtet, gibt es eine Trennung zwischen den sogenannten Government-Schools und den Privatschulen. Auch die letzteren müssen sich an den Abschlussprüfungen und Qualifikationen orientieren, die ihnen vom Land vorgegeben sind. Viele Inder schicken ihre Kinder, soweit sie sich das finanziell erlauben können, in Privatschulen, weil sie der Meinung sind, dass die Qualität der staatlichen Schulen unzureichend ist. Ob dieser schlechte Ruf gerechtfertigt ist, kann ich nicht beurteilen.
 
Etwa 1.2 Millionen Schüler in Indien besuchen Schulen, die einer Unterabteilung zugehört, welche der Behörde der Zentralregierung, dem Ministry of Human Resource Development, unterstellt ist. Die Behörde nennt sich Kendriya Vidyala Sangathan (KV).  Unter anderem wird hier in den Klassenstufen XI und XII bei 500 dieser Schulen und zurzeit 70 000 Schülern Deutsch als erste Fremdsprache unterrichtet, und zwar nach dem Curriculum des Central Board of Secondary Education in New Delhi. Ausserdem spielt die deutsche Sprache in den Privatschulen und in der Erwachsenenbildung eine Rolle.
 
Das Deutsche Auswärtige Amt unterstützt in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut diesen Unterricht. So war der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier noch im September dieses Jahres 2014 in New Delhi. Bei einem Besuch in einer Schule in der Hauptstadt wurde er von den Schülern auf Deutsch begrüsst. Es wurde ihm signalisiert, dass das Abkommen zwischen der KV und Deutschland um weitere 3 Jahre verlängert und auf 115 000 Schüler erweitert werden könnte. Nur einen Monat später erreichte Deutschland die Nachricht, dass das „ 1000 “ genannte Projekt auslaufen soll.
 
Bei Spiegel-online las man: Der neue Premierminister Narendra Modi setzte zwar auf die nationalistische Karte, hiess es. Doch habe man gehofft, dass Modi das Wirtschaftswachstum über den Nationalstolz stellen würde ‒ und für Wachstum seien Fremdsprachenkenntnisse unerlässlich. Diplomaten in Neu-Delhi sprachen von der ‚Schattenseite des Hindunationalismus’.“
 
Woher der plötzliche Sinneswandel? Der Verband indischer Sanskrit-Lehrer hatte vor dem Obersten Gericht geklagt, dass es nicht mit der indischen Verfassung vereinbar sei, fremde statt einheimische Sprachen zu unterrichten. Die offiziellen Landessprachen sind die Sprache des Landes, etwa Mayalayam im Bundesstaat Kerala oder Tamil in Tamil Nadu, oder Hindi in nördlichen Landesteilen. Die Amtssprache Englisch als weitere Sprache wurde vor dem Abkommen mit der deutschen Regierung oft zusammen mit Sanskrit, eine „tote“ Sprache, wie auch Latein eine solche genannt wird, unterrichtet.
 
Indien ist ein Land, in dem – so wird es von Linguisten gesehen – über 100 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Das Land ist in 29 Bundesstaaten und 7 Unionsterritorien (darunter Delhi) aufgeteilt. Die Bundesstaaten legen ihre regionalen Amtssprachen fest. Die Sprachen gehören zu 4 verschiedenen Sprachenfamilien, worunter die indoarische (ein Zweig davon ist indogermanisch) und die dravidische die grösseren sind. Im Süden überwiegt die dravidische, im Norden die indoarische Sprachenfamilie.
 
Englisch ist Amtssprache. Ich habe in Bangalore, der Hauptstadt von Karnataka, ein Bundesstaat, in der die dravidische Landessprache Kannada gesprochen wird, Erwachsenen Deutschunterricht erteilt, die neben Englisch oftmals 2, 3 oder gar 4 indische Landessprachen mehr oder weniger beherrschten. Sie hatten nicht zuletzt wegen der Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland, wegen der Initiative des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik und aus anderen Erwägungen heraus, etwa Deutschlehrer in Indien zu werden, sich entschlossen, noch eine weitere Sprache zu lernen.
 
Es ist offensichtlich, dass die Vermittlung einer Fremdsprache auch politisch motiviert wird. Eine hindu-nationalistische Regierung, wie sie seit einigen Monaten im Amt ist, setzt andere Prioritäten. Diese werden nicht nur nationalistisch geprägt sein, sondern sich auch danach richten, welche Beziehungen Indien mit anderen Ländern pflegt. Wenn die Zusammenarbeit der sogenannten BRIC-Staaten, nämlich Brasilien, Russland, Indien und China enger wird, könnte es sein, dass einer Sprache dieser Länder demnächst der Vorrang gegenüber der deutschen Sprache gewährt wird.
 
Dann wird in einem weiteren Land die deutsche Sprache nur eine stark untergeordnete Rolle spielen. Nach den Zahlen des Deutschen Akademischen Auslandsamtes befindet sich weltweit zahlenmässig Indien nicht unter den 10 Ländern der Deutschlernenden. Am häufigsten wird übrigens in der Russischen Föderation Deutsch gelernt, nämlich von 4.6 Millionen Menschen, gefolgt von Polen mit 2.2 Millionen! Widerspricht das nicht der momentanen Meinungsmache gegenüber Russland?
 
 
Quellen
Central Board of Secondary Education, New Delhi, Languages,Volume II, Senior School Curriculum 2014.
 
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